Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Urlaub ohne Geld: Ferien – und nun?
> Unsere Autorin träumt vom Urlaub in Italien. Doch als Alleinerziehende
> reicht es nur für den Rostocker Ortsteil Lütten Klein. Wie man trotzdem
> das Beste daraus macht.
Bild: Kirschen, ein Zeichen des Sommers: Das Geld reicht nicht für die Art von…
Jedes Jahr wieder die gleiche Situation. Die Ferien beginnen, wir quetschen
die Schultasche tief in den Schrank. Auch die Brotboxen kommen außer
Sichtweite und ich stelle den Wecker aus. Ferien. Sechs Wochen und vier
Tage und fast nichts geplant. Dafür bedrückt mich der Gedanke, 46
Mittagessen kochen zu müssen. Ich lebe mit meinem 10-jährigen Sohn allein.
S[1][eit Wochen steht bei den meisten schon das Programm] für die Ferien
fest und ich hoffe, dass mich keiner fragt, was wir eigentlich machen.
Jeder scheint zu wissen, wo es hingeht, das Ziel vor Wochen gefunden,
gebucht, bezahlt. Ich freue mich mit allen mit: „Ah, zwei Wochen Ostsee –
nur sagst du? Das ist doch schön“, „Erst dahin und dann da? – Klingt gut…
„Amerika – wow.“ Schmerzhaft wird es bei Italien. Meine Sehnsucht nach der
ligurischen Küste ist seit Jahren groß.
Auch wenn ich Individualreisen bevorzuge, gebrauchen könnte ich gerade
einen [2][All-inclusive-Urlaub] – 10 Tage Sonne, Meer, Pool für das Kind
und vor allem Essen, das nicht von mir gekauft, zubereitet und nachbereitet
werden muss. Ausatmen, nichts organisieren müssen, alles schon bezahlt,
Leichtigkeit. Aber es gibt kein Budget für solche Reisen und planen kann
ich auch nicht gut.
## Ferien bedeutet auch, wenig Zeit für mich zu haben
Die letzten Tage vor den Ferien waren angespannt. Ich geizte mit jeder
Minute, die ich allein verbringen konnte. Sechs Wochen Ferien heißt auch,
sechs Wochen wenig Zeit für mich. Die Stunden am Abend fallen weg,
schließlich bleibt das Kind länger wach. Ich bin ehrlich, die großen Feste
liegen mir nicht. Mir liegen die kleinen. Ich kann aus jedem Tag etwas
Besonderes herausholen, mit grenzenloser Fantasie, Momente unerwartet
gestalten, kleine Feste in Minuten aus dem Boden stampfen, aber die großen
Dinge überfordern mich.
Noch dazu kommt die Frage, ob ich dem Kind nicht auch was bieten muss,
etwas, das mit den Aktivitäten der anderen vergleichbar ist. Und dann soll
der Sommer auch noch so einzigartig wie möglich sein. Sommer ist meine
Zeit. Aber leicht ist er nicht.
Ich schreibe in ein kleines Buch, was mir an Machbarem einfällt. Anfangs
kommt mir kaum eine Idee, dann füllt sich das Buch: Matratzenübernachtung
im Wohnzimmer, Abendessen im Waschsalon, eine Tour mit der Straßenbahn ins
Ungewisse, kleine Urlaube in der Bibliothek, am Springbrunnen. Gibt es
nicht jemanden, den wir besuchen können?
Ich gucke mal, was ich habe. Da ist mein kleines Atelierzimmer im alten
Bahnhof in Schönwalde, im Spreewald. Da passen neben meinen Schreibtisch
genau zwei Liegen. Dort können wir bleiben, solange wir wollen. Wir werden
morgens mit dem Klapprad zum Bäcker fahren, eines der saftigen Stücke
gleich im Laden essen. Ich könnte abends einen Film an die alte
Bahnhofswand beamen, vielleicht „Der Swimmingpool“ mit dem aufregenden
Alain Delon und danach den Soundtrack des Films auf dem leiernden
Plattenspieler über die dunklen Schienen in die Stille schicken.
Die Freibäder der Umgebung sind für das Kind verlockend. In Golßen kostet
der Eintritt in das nie überfüllte Bad so wenig wie nirgends mehr. Auf der
ausgeliehenen Liege kann man sich, mit Blick auf das Becken, ein bisschen
wie in dem französischen Film fühlen und von Alain Delon träumen. Und wir
werden kleine, überraschende Feste feiern. Im letzten Jahr erfand ich das
Spiel: 1 Laden, 3 Menschen, 3 Euro. Dem Kind gab ich das Geld. Unser Freund
machte mit. Jeder musste 3 Dinge kaufen. Am Abend präsentierten wir unsere
neu erworbenen Schätze den anderen. Jemand aus dem Ort hat den Jungen
eingeladen, mal bei ihm zu imkern. Ich merke, es ist mehr da als gedacht.
Jedes Jahr, wenn unser winziger Kirschbaum, der in einem Topf auf der
Terrasse steht, Früchte trägt, gibt es eine Zeremonie. Für jede Kirsche,
die wir abwechselnd in den Mund stecken, wünschen wir uns mit geschlossenen
Augen was für den Sommer. Mein Junge will baden im Freibad und im See, ich
gute Fotos und leichte Tage mit Sonnenschein. In den letzten Jahren habe
ich mir Italien gewünscht. Das ließ ich in diesem Jahr weg. Klappt ja doch
nicht. „Lütten Klein“, sagte der Junge mit leuchtenden Augen. „Wieder
Lütten Klein?“, fragte ich. „Ja, bitte.“
[3][Lütten Klein], ein Ortsteil von Rostock, der nicht gerade der
attraktivste ist, war vor fünf Jahren, als ich wie immer auf den letzten
Metern kein bezahlbares Quartier mehr fand, eine Notlösung und wurde zum
Traditionsziel in jedem Sommer. Da stehen statt Palmen Plattenbauten. Es
ist von Weitem betrachtet wie Urlaub in der DDR. Irgendetwas Vertrautes
finde ich dort. Aber ich sehe jedes Jahr mehr die Schwierigkeiten, die
traurigen Gestalten, die keinen Platz in der Gesellschaft gefunden haben,
die schon morgens vor dem Asia-Imbiss das Treiben beobachten, als hätte es
mit ihnen nichts zu tun.
## Um die Tage zu gestalten, ist Fantasie gefragt
Es ist gar nicht so, dass die Unterkunft in dem ehemaligen Arbeiterwohnheim
günstig wäre. Mit Kind zahlt man ein normales Doppelzimmer. Wer [4][mit
Kind allein] reist, muss in den meisten Fällen für beide den vollen Preis
bezahlen. Aber ich liebe hier den Blick auf die vielen Fenster. Ich finde
das nicht weniger inspirierend, als auf das Meer zu sehen. Die Ostsee ist
mit dem Auto in 15 Minuten erreichbar. Um die Tage zu gestalten, ist
Fantasie gefragt. Wir ziehen in geheimnisvoller Mission mit Walkie-Talkies
durch das Einkaufszentrum und finden in den Bücher-mitnehm-Regalen Schätze.
Wieder Lütten Klein, das fünfte Jahr in Folge?
Für Berliner Aktivitäten habe ich für neun Euro den Super-Ferien-Pass
gekauft. Der hat neben Gutscheinen für Ermäßigungen in Kinos und Museen in
der Mitte eine Badekarte. Mit der kann das Kind jeden Tag in den Ferien in
einem Frei- oder Hallenbad kostenlos schwimmen gehen. Ich habe alle Spiele,
die der Junge nie angesehen hat, in eine große Tüte gepackt. Aus der können
wir was ziehen. Das testen wir dann. Und wir machen mit dem Rad
„Mal-sehen-was-passiert“-Touren. Manchmal bringt es was, den Dingen schöne
Namen zu geben, um sie besonders zu machen. In einer Kiste sammeln wir alle
Sommerfundstücke, besondere Steine, Bücher, seltsame Gegenstände, ein
Tütchen Ostseesand. Die ziehen wir dann im Winter unter dem Sofa hervor und
erinnern uns.
Wichtig ist es, sich zu überlegen, wie jeder von uns was von der Zeit haben
kann. Was mir seit einigen Jahren hilft, ist, jeden Tag was Neues zu
machen. Es ist ein kleines unauffälliges Spiel. Manchmal kann der Junge
mitmachen, meistens mache ich es für mich allein. Ich will Mundharmonika
lernen, ein Salatrezept aus einer italienischen Zeitschrift übersetzen und
ausprobieren. Sogar ein auffälliges Kleid habe ich dafür im Sale gekauft.
Mal sehen, wann ich es trage.
Arbeiten muss ich in den sechs Wochen auch. Hierfür habe ich meinen roten
Holzklapptisch an einen ungewöhnlichen Ort gestellt. Im Badezimmer gibt es
eine ungenutzte Ecke, vor der Waschmaschine am Fenster. Ich habe den
kleinen Ventilator auf den Tisch gestellt, einen Vorhang davor gehängt.
Jeden Tag was Neues. Es ist ein herrlich unkonventionelles
Sommerarbeitszimmer ohne Ablenkungen. Um das Schreiben anders zu gestalten,
benutze ich eine alte Tastatur. Sie macht ein herrliches Klackergeräusch.
In den Pausen läuft italienisches Radio, der kleine Ventilator bläst mir
ein Windchen in die Haare.
Jetzt freue ich mich – es ist Sommer, sechs schöne Ferienwochen können wir
gestalten. Da wird so einiges passieren und am Ende wird die Zeit rennen
und wir werden nicht alles geschafft haben. Und trotzdem bleibt die
Sehnsucht nach einer Reise in den Süden. Könnte ich nicht mal versuchen, im
nächsten Jahr schon im Winter was für den Sommer zu überlegen? Die letzten
zwei Wochen halte ich mir mit der kleinen Hoffnung frei, dass ja vielleicht
doch noch Italien möglich ist. Wahrscheinlich wird es dann wieder Lütten
Klein.
5 Aug 2025
## LINKS
[1] /Zuhause-bleiben/!6100451
[2] /Reiseveranstalter-FTI-insolvent/!6011646
[3] /Neue-Buecher-ueber-die-Folgen-der-Wende/!5632216
[4] /Alleinerziehend-unterwegs/!6101565
## AUTOREN
Katja Schrader
## TAGS
Ferien
Geld
Alleinerziehende
Familie
Sommer
Rostock
GNS
Reden wir darüber
Podcast „Mauerecho“
Schwimmunterricht
Bildung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Urlaub in Ost und West: Geteiltes Land, geteilte Ferien?
Wie prägte die Teilung das Reiseverhalten der Deutschen? Simone Schmollack
und Andreas Rüttenauer im Gespräch über Ferien, Fernweh und Freiheit.
Kinder ohne Schwimmabzeichen: Seepferdchen werden zur gefährdeten Art
Entgegen dem Trend steigt in Neukölln und Lichtenberg die Zahl der
Nichtschwimmer*innen. Die Linke fordert Geld für Schwimmbäder und mehr
Unterricht.
Bildungspolitik in Schleswig-Holstein: Zu wenig Geld für Vertretung
Schleswig-Holsteins Fonds für Vertretungslehrkräfte war schon vor den
Sommerferien ausgeschöpft. Die Opposition spricht vom „Versagen der
Regierung“.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.