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# taz.de -- Krise in Nigeria: Im Land des Hungers
> Nirgendwo auf der Welt gibt es mehr Unterernährte als in Nigeria.
> Hilfswerke warnen jetzt: Die große Krise kommt erst noch.
Bild: Eine Mutter lässt in einer Gesundheitseinrichtung in nigerianischen Maid…
Berlin taz | Die Angreifer kamen mitten in der Nacht und fackelten nicht
lange. Unzählige Hütten im Dorf Yelawata gingen in Flammen auf, Menschen
verbrannten im Schlaf oder wurden erschossen. „Der Gestank verwesender
Leichen hing in der Luft“, berichtete ein Team von Amnesty International
wenige Tage später nach einem Ortsbesuch, „Patronenhülsen übersäten den
Boden“. Der Überfall in der Provinz Benue im Zentrum Nigerias in der Nacht
zum 14. Juni forderte nach offiziellen Angaben 59 Tote, nach lokalen
Berichten bis zu 250.
Vieles blieb unklar, unter anderem wer die Täter überhaupt waren. In vielen
Berichten werden sie einfach als „Dschihadisten“ bezeichnet, doch es gibt
auch komplizierte lokale Landkonflikte in der Region. In jedem Fall mussten
Tausende Menschen aus dem niedergebrannten Ort fliehen, darunter manche,
die bereits vor Gewalt anderswo geflüchtet waren. Sie suchten Zuflucht in
einem Vertriebenenlager – über 1.000 Bauern und ihre Familien, die nun auf
Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind, statt selbst Nahrung anzubauen.
Kein Land der Welt zählt laut dem [1][neuen UN-Welternährungsbericht] mehr
Unterernährte als Nigeria: 45,4 Millionen Menschen, rund ein Fünftel der
220 Millionen Einwohner. In „Ernährungsunsicherheit“ leben sogar über 170
Millionen. Gut und sorglos essen ist in Afrikas bevölkerungsreichstem Land
ein Luxus geworden.
Bewaffnete Konflikte sind ein Grund dafür. 80 Prozent des Getreides in
Nigeria wird im Nordwesten und Nordosten des Landes angebaut – in Nigerias
Kriegsgebieten. Im Nordosten wüten die islamistischen Terrorgruppen Boko
Haram und ISWAP (Islamischer Staat der Provinz Westafrika), der Nordwesten
wird von kriminellen Wegelagerern und Banditen heimgesucht, in
Zentralnigeria kommen jahrzehntelange Landkonflikte dazu. Auch die Armee
begeht Verbrechen im Kampf gegen bewaffnete Gruppen. Allein im ersten
Halbjahr 2025 zählte Nigeria bei solcher Gewalt über 10.000 Tote. Die
produktive Landwirtschaft ist weitgehend zusammengebrochen.
## Geld fließt ins Öl, nicht in die Landwirtschaft
Seit Jahrzehnten vernachlässigt Nigeria seine Landwirtschaft. Kapital
fließt in die Ölindustrie und in die Städte. Als die Regierung 2015 ein
Kreditprogramm für Bauern auflegte, um die einheimische Nahrungsproduktion
anzukurbeln, legten die Empfänger es lieber in Wechselstuben und
Ölgeschäften an, [2][enthüllte vor wenigen Tagen] der frühere
Regierungssprecher Bashir Ahmed. Laut der Zentralbank wurde nur die Hälfte
der Kredite zurückgezahlt.
Produktiv im eigenen Land zu investieren, gilt in Nigeria als unattraktiv.
In den vergangenen Jahren ist das Land massiv verarmt. Das
Wirtschaftswachstum liegt fast jedes Jahr unter dem Bevölkerungswachstum.
Der 2023 gewählte Präsident Bola Tinubu schaffte in einer seiner ersten
Amtshandlungen die bisherigen Benzinsubventionen ab, womit sich die
Treibstoffpreise verdreifachten und alles schlagartig teurer wurde, vor
allem einheimische Lebensmittel.
Er gab auch den Wechselkurs der Landeswährung Naira frei, was sie absacken
ließ und alle Importe automatisch verteuerte. Der Wert des gesetzlichen
monatlichen Mindestlohns sank bis Mitte 2024 auf nur noch 17 Euro. Per
Generalstreik erkämpften die Gewerkschaften eine Anhebung auf rund 40 Euro
– trotzdem kostet eine Tankfüllung jetzt mehr als ein monatlicher
Mindestlohn.
Die Preisexplosion bei Lebensmitteln ist in Nigeria so dramatisch wie kaum
irgendwo auf der Welt. Die Grundnahrungsmittel Reis, Getreide, Kartoffeln
oder Yamwurzeln kosteten laut UN Mitte 2024 fünfmal so viel wie 2019.
Öffentlich über Hunger klagen war früher in Nigeria selten, heute ist es
Alltag. Laut Regierung leben 56 Prozent unter der Armutsgrenze; vor sechs
Jahren waren es 40 Prozent.
## Keine Hungerhilfe in Sicht
Am 8. Juli [3][schlug Nigerias Vizepräsident Kashim Shettima bei der
Eröffnung eines nationalen Hungergipfels Alarm]: 40 Prozent aller Kinder
Nigerias seien unterernährt. Er sprach von einem „nationalen Notstand“.
Nach amtlichen Angaben benötigen dieses Jahr 33 Millionen Menschen in
Nigeria Hungerhilfe. Vergangenes Jahr waren es 25 Millionen.
Wo die Hungerhilfe herkommen soll, ist unklar. Nigeria mit seiner durch das
Öl schwerreich geworden Elite hat keine Priorität auf der Rangliste der
globalen Krisen. Einer der bislang wichtigsten Geber, die
US-Entwicklungsbehörde USAID, fällt dieses Jahr dank Donald Trump aus.
[4][Das UN-Welternährungsprogramm WFP] teilte vor einer Woche mit, aus
Geldmangel müsse es Ende Juli die Versorgung von 1,3 Millionen Hungernden
in Nigerias Nordosten einstellen.
Vor einem massiven Hungersnot warnen Hilfswerke in Nigerias
Konfliktgebieten schon seit Jahren. Vergangene Woche [5][schlug „Ärzte ohne
Grenzen“ (MSF) Alarm]: 652 Kinder seien dieses Jahr allein im Bundesstaat
Katsina in MSF-Einrichtungen an Hunger gestorben, bei 70.000
Einlieferungen, davon 10.000 in kritischem Zustand. Von 750 untersuchten
Schwangeren seien über die Hälfte schwer unterernährt. Viele
Gesundheitseinrichtungen seien entweder unerreichbar oder inexistent,
Impfprogramme würden wegen Unsicherheit zusammenbrechen.
Die Armut sei dramatisch: „Immer mehr Menschen können sich nichts mehr zu
essen kaufen“, sagte der Leiter von MSF in Nigeria, Ahmed Aldikhari. „Das
Ausmaß der Krise übersteigt alle Vorhersagen.“
29 Jul 2025
## LINKS
[1] https://openknowledge.fao.org/items/18053f75-4c71-4a35-a0d9-1eb2fe204364
[2] https://www.vanguardngr.com/2025/07/bashir-ahmad-explains-how-farmers-diver…
[3] https://www.vanguardngr.com/2025/07/un-summit-combating-food-insecurity-req…
[4] https://news.un.org/en/story/2025/07/1165477
[5] https://www.msf.org/mobilisation-needed-avoid-further-deaths-malnutrition-n…
## AUTOREN
Dominic Johnson
## TAGS
Nigeria
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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