| # taz.de -- Wenn das System versagt | |
| > Einer alleinerziehenden Frau drohte die Zwangsräumung, da dasJobcenter | |
| > monatelang keine Miete für die Familie überwies | |
| Von Nina Schieben | |
| Sahra R. steht vor einem maroden Mehrfamilienhaus in Reinickendorf. In | |
| einer 38 Quadratmeter kleinen Wohnung im zweiten Stock lebt sie mit ihrem | |
| vierjährigen Sohn und ihren zweijährigen Zwillingen. Der Blick der | |
| 32-Jährigen geht hoch zum Fenster mit Katzenschutznetz, durch die Scheibe | |
| schaut ihre Tochter herunter und winkt. „In einer halben Stunde muss ich | |
| wieder hoch zu den Kindern“, sagt die Frau mit den dunklen Augen und der | |
| festen Stimme. „Seit ich alleinerziehend bin, bin ich nur noch am Hetzen“. | |
| Es klingt fast, als wolle sie sich dafür entschuldigen. | |
| Seit Anfang 2024 bezieht Sahra R. Bürgergeld. Die Wohnung, in der sie seit | |
| 12 Jahren lebt, gehört dem Immobilienkonzern Deutsche Wohnen, die Miete | |
| wird für die Familie vom Jobcenter übernommen. Eigentlich. Denn zwischen | |
| Oktober 2024 und April 2025 blieb die Zahlung aus, eine Lücke mit | |
| weitreichenden Folgen: Im Februar sprach die Deutsche Wohnen eine fristlose | |
| Kündigung aus und veranlasste die Zwangsräumung. | |
| Schon vor einem guten Jahr hatte Sahra R. Schwierigkeiten mit dem Jobcenter | |
| bekommen: Die Behörde stellte im Juni 2024 stellte die Zahlungen | |
| vollständig ein, offenbar weil Unterlagen fehlten. Wegen des Mietrückstands | |
| sprach die Deutsche Wohnen zum ersten Mal eine fristlose Kündigung aus. Die | |
| junge Frau erinnert sich noch gut, „wie aufgelöst“ sie war, als sie | |
| plötzlich „ohne einen Cent“ vom Jobcenter dastand und sich fragte, wie sie | |
| nun die Windeln für ihre Kinder bezahlen sollte. | |
| Daraufhin wandte sich R. an den Verein Sanktionsfrei, der | |
| Bürgergeldempfänger:innen bei Problemen mit dem Jobcenter | |
| unterstützt. Sanktionsfrei sprang in die Lücke, die das Jobcenter | |
| hinterlassen hatte. Der Verein gewährte Sahra R. ein Darlehen und beglich | |
| den Mietrückstand. Zudem erhielt Sahra R. durch den Verein anwaltlichen | |
| Beistand, der Widerspruch gegen die Kündigung einlegte. Nachdem sie die | |
| fehlenden Unterlagen nachgereicht hatte, wurde ihr vom Jobcenter im | |
| September bescheinigt, die Zahlung des Bürgergelds wieder aufzunehmen. | |
| Daraufhin nahm die Deutsche Wohnen die Kündigung zurück. | |
| Doch vorbei war der Spuk für die junge Frau damit nicht. Nach dem | |
| plötzlichen Tod ihres Mannes im August 2024 ging der Albtraum erst richtig | |
| los. Denn das Jobcenter zahlte ab Oktober zwar den Lebensunterhalt wieder | |
| aus, nicht jedoch die Miete, die direkt an den Vermieter gehen sollte. | |
| Von diesem Zahlungsausfall erfuhr R. aber erst im März dieses Jahres – als | |
| zwei Mitarbeiterinnen der Deutschen Wohnen und der Hausmeister vor ihrer | |
| Tür standen und die Räumung der Wohnung anordneten. Sie sei „völlig | |
| perplex“ gewesen sei, sagt R., zwei Tage später habe sie das | |
| Kündigungsschreiben der Deutsche Wohnen im Briefkasten gefunden. Anders als | |
| R. habe ihr Anwalt bereits im Februar 2025 von der fristlosen Kündigung | |
| erfahren. Erst im April zahlte das Jobcenter die Mietrückstände nach. | |
| Gegenüber R. begründete das Jobcenter den Zahlungsausfall mit einem | |
| Bearbeitungsfehler, den man erst im Februar bemerkt habe. Ein Fehler, der | |
| die Frau und ihre Kinder fast obdachlos gemacht hätte. | |
| Denn seit vergangenen Freitag kann die Familie aufatmen – vorerst | |
| jedenfalls: Die Kündigung wird zurückgenommen, unter der Bedingung, dass | |
| die nächsten sechs Monatsmieten pünktlich eingehen. Kurz zuvor hatte die | |
| Deutsche Wohnen mitgeteilt, die Zwangsräumung auszusetzen. Sanktionsfrei | |
| und Sahra R. hatten auf einen Vergleich gedrängt. R. bezeichnet | |
| Sanktionsfrei als ihre „Rettung“. Neben der rechtlichen Unterstützung | |
| machte der Verein auch in den sozialen Medien auf den Fall aufmerksam. Dass | |
| die Familie heute nicht obdachlos ist und die Deutsche Wohnung die | |
| Kündigung zurückgenommen hat, wäre ohne die Hartnäckigkeit und den Druck | |
| des Vereins wahrscheinlich anders gelaufen. „Was machen die, die keine | |
| Unterstützung haben und auf sich allein gestellt sind?“, fragt R. sich. | |
| Der Tod ihres Mannes habe sie erst einmal „aus dem Leben gerissen“, erzählt | |
| sie. Doch für ihre Kinder musste sie irgendwie funktionieren. Dass weder | |
| das Jobcenter noch die Deutsche Wohnen in den vergangenen Monaten Rücksicht | |
| auf ihre besondere Situation genommen haben, macht sie fassungslos. „Ich | |
| habe mir nicht ausgesucht, Bürgergeld zu beziehen“, sagt R. Ihr ältester | |
| Sohn ist Autist, einer Arbeit nachzugehen, sei für sie aktuell nicht | |
| möglich. | |
| Helena Steinhaus, Gründerin und Vorsitzende von Sanktionsfrei, spricht | |
| gegenüber der taz von einer „neuen Drastik“, die Sahra R.s Fall | |
| kennzeichne. Zwar sei es bei Weitem kein Einzelfall, dass alleinerziehende | |
| Mütter in die Obdachlosigkeit gezwungen werden. Aber die Härte, mit der die | |
| Deutsche Wohnen trotz Kenntnis über R.s tragischen Lebensumstände agierte, | |
| habe sie so noch nicht erlebt. Steinhaus fordert, den gesetzlichen | |
| Räumungsschutz für besondere Personengruppen und Lebensumstände | |
| auszuweiten, etwa für Alleinerziehende. Bisher greift dieser meist nur bei | |
| schwerwiegenden Erkrankungen. | |
| Die Deutsche Wohnen erklärt gegenüber der taz, dass Zwangsräumungen der | |
| „letzte Schritt“ seien, den man vermeiden wolle. Erst wenn „vielfache | |
| Kontakt- und Lösungsansätze nicht fruchten“, würde man zu dieser Maßnahme | |
| greifen. | |
| Nach der Bekanntgabe der Aufhebung der Räumung zeigt sich R. erleichtert. | |
| Doch sie will sich nicht zu früh freuen. Denn was passiert, wenn das | |
| Jobcenter die Miete erneut nicht rechtzeitig zahlt? Das Vertrauen in die | |
| Deutsche Wohnen und in das Jobcenter hat Sahra R. längst verloren. | |
| 29 Jul 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Nina Schieben | |
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