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# taz.de -- Die Macht der Fantasie: „In Gedanken verwandeln wir Flüsse in Ho…
> Fantasie hilft uns, soziale Rollen zu erproben, Probleme zu lösen und
> Zukunftspläne zu schmieden. Sie ist keine Zeitverschwendung.
Bild: Heißluftballons auf dem internationalen Ballon-Festival von Albuquerque
taz: Was ist eigentlich Fantasie?
Hannes Rakoczy: Fantasie ist die Fähigkeit, sich vorzustellen, wie die Welt
anders sein könnte – oder hätte sein können. In Gedanken verwandeln wir
Flüsse in Honig, lassen Schweine fliegen oder machen uns selbst zur Königin
von Deutschland. Fantasie eröffnet uns fremde Welten und neue Perspektiven.
Sie ist eine Quelle großer Freude: Ob beim Lesen, Fernsehen oder Gaming.
Wir verbringen viel Zeit damit, in erfundene Geschichten einzutauchen.
[1][Doch Fantasie ist weit mehr als Unterhaltung].
taz: Wofür ist Fantasie denn nützlich?
Rakoczy: Auf den ersten Blick scheint Fantasie keinen unmittelbaren Nutzen
zu haben. Aus biologischer Sicht ist das überraschend, denn auch
spielerisches Denken kostet unseren Körper Energie und Zeit. Warum also
existiert Fantasie überhaupt? Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass
Fantasie eine indirekte Funktion erfüllt und eine Art Nebenprodukt ist. Sie
basiert auf einer sehr allgemeinen kognitiven Fähigkeit, Dinge im Kopf
durchzuspielen und Lösungen zu entwickeln, noch bevor wir handeln. Außerdem
können wir in Fantasiewelten soziale Rollen einüben und mit Erwartungen
experimentieren.
taz: Ist Fantasieren stets eine bewusste Entscheidung?
Rakoczy: Oft ist sie das, wenn wir uns willentlich in Fantasiewelten oder
auf Bühnen begeben. Aber oft passiert sie uns auch mehr oder weniger. Unser
Gehirn kann tatsächlich ohne großes Zutun von uns in eine Art Fantasiemodus
schalten, am eindeutigsten im REM-Schlaf, wenn wir träumen. Träume gelten
als klarer Ausdruck ungebundener Vorstellungskraft. Aber auch im
Wachzustand gibt es Phasen, in denen das Gehirn in einen fantasieähnlichen
Zustand wechselt. Die Neurowissenschaft spricht hier vom Default Mode
Network. Das wird aktiv, wenn wir keine konkrete Aufgabe haben, zum
Beispiel beim Tagträumen. Es ist kein exklusiver Fantasiezustand, aber oft
ein Ausgangspunkt für kreatives Denken. Und auch sie haben einen indirekten
Nutzen: Die Tagträume oder das Durchgehen von erlebten Situationen können
uns helfen, aus der Vergangenheit zu lernen, um in Zukunft bessere
Entscheidungen zu treffen. Das nennt man kontrafaktisches Denken.
taz: Das Einüben von sozialen Rollen und das Ausprobieren von Dingen ist
auch ein wichtiger Teil des kindlichen Fantasiespiels. Ab wann beginnt sich
unsere Fantasie zu entwickeln?
Rakoczy: Erste Formen von Als-ob-Spielen lassen sich schon ab dem zweiten
Lebensjahr beobachten. Anfangs ist das noch ganz einfach: Ein Kind tut zum
Beispiel so, als wäre eine leere Tasse voll, und „trinkt“ daraus. Mit der
Zeit werden Fantasiespiele komplexer: Erst spielen Kinder nur für sich
selbst, dann beziehen sie Puppen oder Tiere als passive Figuren ein. Später
bekommen diese Figuren eigene Gedanken und sprechen selbst. Die Fantasie
wird allmählich systematischer, reicher und flexibler.
taz: Warum orientieren sich [2][kindliche Fantasiespiele] oft so stark an
der Alltagswelt?
Rakoczy: Wenn Kinder mit Teddybären Kita spielen, wirkt das vielleicht
noch nah an der Alltagswelt. Aber auch das ist bereits eine Fantasiewelt.
Am Anfang verändern Kinder in ihren Spielen nur Kleinigkeiten der Realität.
Doch mit der Zeit lernen sie, sich weiter von der echten Welt zu entfernen
und immer freier zu imaginieren. Sie heben dann gezielt einzelne Regeln der
Wirklichkeit auf, zum Beispiel, dass es Schwerkraft gibt oder die Sonne
untergeht. Der Unterschied zur Fantasie von Erwachsenen ist dabei gar nicht
so groß. Auch wir Erwachsenen bauen unsere Ideen meist auf Erfahrungen auf
und entfernen uns dann nach Belieben von der Wirklichkeit.
taz: Wie unterscheidet sich die Fantasie von Kindern und Erwachsenen?
Rakoczy: Es gibt keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Fantasie
von Kindern und Erwachsenen. Was sich ändert, sind Komplexität, Form und
gesellschaftliche Bewertung. Bei Kindern wird zielloses Fantasiespiel
gefördert und geschätzt, bei Erwachsenen dagegen oft als Zeitverschwendung
abgetan. Dabei verbringen viele Erwachsene täglich Stunden mit Büchern,
Serien oder Filmen. Das ist ebenfalls Fantasietätigkeit, nur passiver. Wir
tauchen in fiktive Welten ein, auch wenn wir sie nicht selbst erschaffen.
Darüber hinaus pflegen viele Erwachsene Fantasie aktiv, etwa im Theater,
beim Rollenspiel oder in kreativen Hobbys. Die Fantasie bleibt, entwickelt
sich aber weiter.
taz: Wie gut klappt gemeinsames Fantasiespiel zwischen Kindern und
Erwachsenen?
Rakoczy: Fantasie ist von Anfang an eine soziale Fähigkeit. Anfangs sind es
Erwachsene, die die Spielwelt mitgestalten. Später entstehen immer häufiger
Fantasiespiele unter Gleichaltrigen. Deshalb kann es wunderbar
funktionieren, wenn Kinder und Erwachsene gemeinsam in Fantasiewelten
eintauchen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Erwachsenen
flexibel und aufmerksam sind. Bei jüngeren Kindern übernehmen Erwachsene
oft die Rolle der Koordinatoren: Sie strukturieren das Spiel, behalten den
Überblick über Figuren und Szenen und geben der Fantasie einen Rahmen.
Gleichzeitig profitieren sie selbst von der Offenheit und Unbefangenheit
der kindlichen Vorstellungskraft. Je älter die Kinder werden, desto
gleichberechtigter wird dieses Zusammenspiel. Mit etwas Einfühlungsvermögen
ist das gemeinsame Fantasieren also eine bereichernde Erfahrung für alle
Beteiligten.
taz: Ist die Fantasie von Erwachsenen strukturierter und weniger
detailverliebt?
Rakoczy: Man kann schwer pauschal sagen, wie Erwachsene Fantasiewelten
gestalten. Das ist sehr kontextabhängig. Mal erdenken wir uns große,
komplexe Welten mit politischen Systemen, mal haben wir ganz kleine
Tagträume, wie einen Saft mit Eiswürfeln und Buttermilch zu verfeinern und
ihn an einem heißen Tag zu genießen. Es gibt also keine feste Regel, dass
Erwachsene grundsätzlich rationaler oder weniger detailverliebt
fantasieren. Interessant ist aber: Neuere Forschung zeigt große
individuelle Unterschiede, etwa bei der bildlichen Vorstellungskraft.
Einige Menschen haben Aphantasie, also kein inneres Bild vor Augen. Andere
erleben hyperlebendige, farbige Fantasien. Das nennt man Hyperphantasie.
Die allermeisten Menschen liegen irgendwo dazwischen. Einen gewissen Hang
zur Fantasie sieht man auch in der Kindheit. Etwa 30 bis 50 Prozent aller
Kinder zum Beispiel haben imaginäre Freunde. Das war früher Anlass zur
Sorge, gilt heute aber als Zeichen besonderer Kreativität. Studien zeigen,
dass solche Kinder oft auch später flexibler und fantasievoller denken.
3 Jul 2025
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Birk Grüling
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