# taz.de -- Umstrittenes Hilfswerk in Gaza: Sie zählen jede Kalorie | |
> Die US-Organisation GHF hat die Verteilung von Hilfsgütern in Gaza | |
> übernommen. Augenzeugen sprechen von Chaos und tödlichen Schüssen an | |
> ihren Zentren. | |
Bild: Alles unter Kontrolle? Palästinenser erhalten Hilfsgüter von der umstri… | |
Khan Younis/Berlin taz | Am Ende findet Saeed al-Kasas vor allem ein Wort | |
für das, was er erlebt hat: „Unerträglich“ sei die Verteilung der | |
Hilfsgüter, sagt der 23-Jährige. Er steht vor dem weißen Zelt einer | |
Hilfsorganisation in Khan Younis und berichtet davon, wie er versuchte, für | |
sich und seine sechs Geschwister an Essen zu kommen. Dafür stand er zuletzt | |
in Schlangen vor den Verteilungszentren der Gaza Humanitarian Foundation, | |
kurz GHF. | |
Seit über drei Wochen verteilt die GHF Hilfsgüter im Süden des | |
Gazastreifens. Schon bevor sie Ende Mai überhaupt damit begann, gab es | |
Zweifel an der Integrität der angeblich neutralen Hilfsorganisation: In den | |
USA ansässig, wurde sie nach Berichten der New York Times unter anderem | |
erdacht von Geschäftsmännern, die der israelischen Regierung nahestehen. | |
Die GHF sollte die Verteilung von Hilfsgütern von Organisationen der | |
Vereinten Nationen und anderen etablierten Hilfsorganisationen übernehmen. | |
Kaum ein Tag vergeht allerdings ohne Zwischenfälle. Das neue Verteilsystem | |
ist in den Augen vieler Palästinenser eine Todesfalle. | |
„Diese sogenannten Hilfsgüterverteilungen sind nur darauf ausgelegt, uns zu | |
demütigen“, sagt Saeed al-Kasas, der junge Mann auf den Straßen von Khan | |
Younis. Er zählt auf, was seiner Meinung nach bei den Verteilungen der Gaza | |
Humanitarian Foundation falsch läuft: Die Menge der Güter sei zu gering, | |
die Verteilung chaotisch und unfair, die Zentren in Gebieten, zu deren | |
Evakuierung die Menschen im Gazastreifen eigentlich aufgerufen sind. Und | |
dann natürlich noch: die Schüsse. | |
Die taz hat neben Saeed al-Kasas mit drei weiteren Augenzeugen gesprochen, | |
die in den vergangenen beiden Wochen die in Verteilungszentren der GHF | |
waren. Was sie berichten, lässt sich nicht unabhängig überprüfen. Doch ihre | |
Äußerungen ähneln sich und decken sich mit Berichten anderer Medien. | |
## Hilfsgüter werden teuer weiterverkauft | |
Da ist einmal die Menge der Hilfsgüter, die in den Zentren der GHF bislang | |
verteilt wurden. Nach eigenen Angaben hat GHF bislang „mehr als 11,5 | |
Millionen Mahlzeiten“ ausgehändigt. Allein diese Art der Zählung erschwert | |
Vergleiche mit etablierten Hilfsorganisationen, etwa dem World Food | |
Program, die ihre Lieferungen meist in Tonnen angeben. Und der spanischen | |
Zeitung El País zufolge gibt es Zweifel an den von GHF veröffentlichten | |
Zahlen: Alleine am ersten Tag der Verteilung, Ende Mai, habe GHF von 8.000 | |
verteilten Boxen mit Lebensmitteln berichtet – während etablierte | |
Organisationen auf gerade einmal 500 bis 1.000 Packungen täglich kämen. | |
Auch Saeed al-Kasas sagt: „Die vorhandenen Güter reichen gerade einmal für | |
eine Handvoll Menschen. Und sie sollen aber für die Menschen in allen | |
Governoraten des Gazastreifens bestimmt sein.“ Auch die anderen drei sagen: | |
Der Mangel an Gütern sei offensichtlich. | |
Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, welche Szenen sich vor den | |
Verteilzentren abspielen. In den sozialen Netzwerken ging jüngst ein Video | |
viral, unter anderem der israelische Friedensaktivist [1][Alon-Lee Green] | |
teilte es: Zu sehen ist eine Masse an Menschen, die sich an die Sperranlage | |
drängt, die das Zentrum begrenzt. Sie klettern über den Zaun, rennen in | |
Richtung der Kamera. Green schreibt, das Video habe er von einem der | |
US-amerikanischen Sicherheitskräfte bekommen, die mit der Sicherung betraut | |
sind. | |
Das Chaos, in dem die Verteilungen stattfinden, beschreiben auch alle | |
Augenzeugen der taz. „Es gibt willkürliche Angriffe, Diebstahl, Gangs, die | |
die Schlangen vor dem Zentrum übernehmen“, sagt al-Kasas. Genau das sollte | |
unter der Ägide der GHF laut Israel nicht eintreten: Sie sollte Ordnung | |
schaffen, Plünderungen verhindern. Immer wieder hatte Israel die Hamas | |
beschuldigt, Hilfsgüter zu beschlagnahmen und an sich selbst zu verteilen. | |
Ein Bericht der [2][Washington Post ] säte an dieser Darstellung schon vor | |
Monaten Zweifel: Viel mehr seien es bewaffnete Gangs, die unter den Augen | |
der israelischen Armee die Güter entwendeten, die dann teuer auf den | |
Marktplätzen von Gaza landeten. | |
Vor Beginn der Verteilung durch GHF wurde berichtet, wie die Organisation | |
sicherstellen wolle, dass nur Berechtigte einen Karton mit Gütern | |
erhielten: von langen Gängen, umgrenzt von Metallgittern, in denen sich die | |
Menschen anstellen sollen. Von einem Gutscheinsystem, bei dem jeder Familie | |
ein solcher Gutschein zugestünde, war die Rede. [3][Al Jazeera berichtete | |
sogar von einem angeblich geplanten Scan der Augen.] Die Realität sieht | |
wohl ganz anders aus. Al-Kasas sagt: „Die Menschen rennen einfach, um | |
irgendwie an Essen zu kommen, für ihre Söhne und Töchter.“ | |
## Ordnung sieht anders aus | |
GHF selbst schreibt der taz auf Anfrage: „Unser Fokus ist, hungrige | |
Menschen zu versorgen, nicht Ausweise zu überprüfen.“ Es würden außerdem | |
noch immer zu wenig Hilfsgüter im Gazastreifen verteilt. Man versuche | |
deswegen Israel zu bewegen, „Hilfsgüter unter dem alten | |
Verteilungsmechanismus zu erlauben, während wir uns vergrößern“. GHF | |
teilte auf Facebook jüngst ein Bild: Es zeigt Frauen und Kinder, die | |
Kartons durchwühlen, Packungen entnehmen. Im Hintergrund steht eine Kette | |
Männer in blauen Westen, dahinter stauen sich Massen von Menschen. GHF | |
schreibt dazu: Mit der Kette habe man Frauen und Kinder geschützt, sodass | |
sie „sicher Lebensmittelpakete erhalten“ konnten. Kontrolle, Ordnung sieht | |
anders aus. | |
Dass aus der Masse an Wartenden so schnell ein Sturm auf die Verteilung | |
werden kann, liegt auch an der Lage der Zentren. Sie liegen allesamt in | |
Gebieten, zu deren Evakuierung die IDF, die israelischen Streitkräfte, | |
zuvor aufgerufen hatten. In seinen jüngsten Facebook-Posts hat GHF Skizzen | |
geteilt, wie die Menschen zur Verteilung kommen sollen: Eingezeichnet ist | |
eine rote Linie, die erst nach der Öffnung der Verteilungszentren | |
überschritten werden soll. Von dort aus sind es noch mehrere hundert Meter, | |
teils fast zwei Kilometer, Fußweg zum Zentrum an sich. Auf der Karte ist | |
eine Strecke eingezeichnet, von der die Menschen nicht abweichen sollen. | |
Die Häuserzeilen rundherum sind laut Augenzeugen zu großen Teilen zerstört. | |
Das Verteilungszentrum selbst umgibt eine Befestigungsanlage – ein | |
Metallzaun, aufgeschütteter Sand. Es gibt nur einen Eingang und einen | |
Ausgang zum Verteilungszentrum an sich. Präsent sind außerdem die privaten | |
US-Sicherheitskräfte der Firmen UG Solutions und S. R. S., die von einem | |
Ex-CIA-Mann geleitet wird. Den Umgang mit den Sicherheitskräften empfand | |
Saeed al-Kasas, der bereits in den Verteilzentren anstand, als | |
„erniedrigend“. Eine Sicherheitskraft habe ihn sogar gefilmt, sagt er, „a… | |
ich versucht habe, an Essen zu kommen“. | |
Wer unter diesen Umständen ein Hilfspaket ergattert, erhält gerade das | |
Allernötigste: Nach Berichten von Augenzeugen enthalten sie meist Mehl, | |
Nudeln, Reis, Linsen – zu deren Zubereitung man aber sauberes Wasser, Gas | |
oder Feuerholz benötigt. Auch GHF selbst bestätigt: In jeder Box sei genug | |
Essen für eine „fünfeinhalbköpfige Familie“ für etwa drei Tage – Mehl, | |
Zucker, Reis, Öl, Thunfisch oder getrocknete Bohnen. „Es gibt da so eine | |
Kalorien-Sache, auf die die humanitäre Gemeinschaft sich bezieht“, schreibt | |
GHF lapidar. | |
## Israelische Schüsse auf die Wartenden | |
„Man geht hin, um einen Packen Mehl zu bekommen“, sagt al-Kasas, „und wird | |
dabei vielleicht angeschossen – ins Bein, in den Arm“. Alle | |
Gesprächspartner der taz wurden nach eigenen Angaben Augenzeuge von | |
Schüssen auf die Schlangen vor den Verteilungszentren. Al-Kasas stand dort | |
am Morgen des 1. Juni an, erzählt er. Die israelischen Drohnen seien über | |
dem Verteilungszentrum geflogen, dann seien die Schüsse gefallen. Das | |
israelische Militär dementierte zunächst, sprach dann von „Warnschüssen“. | |
[4][Der Sender CNN recherchierte] anhand von Videos und | |
Augenzeugenberichten sowie der verschossenen Patronen nach und kam zu dem | |
Schluss: Wahrscheinlich haben israelische Soldaten geschossen. | |
In den Zentren selbst, betont GHF, seien keine Schüsse gefallen, das | |
israelische Militär sei nicht präsent. „Außerhalb unseres Gebietes ist es | |
wichtig, dass die Menschen auf der freigegebenen Route bleiben“. Man habe | |
das israelische Militär angefragt, mehr zu tun, um den Menschen eine | |
sichere Passage zu den Zentren zu ermöglichen. | |
Derweil kommt schon das nächste Problem auf: Ein Bus mit in den GHF-Zentren | |
beschäftigten palästinensischen Arbeitern wurde nach deren Angaben von der | |
Hamas angegriffen, fünf von ihnen getötet. Ein Kommentar der Hamas steht | |
noch aus. | |
13 Jun 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Juedisch-palaestinensischer-Protest/!6089834 | |
[2] https://www.washingtonpost.com/world/2025/06/07/gaza-armed-groups-hamas-isr… | |
[3] /Humanitaere-Lage-im-Gaza-Krieg/!6088548 | |
[4] https://edition.cnn.com/2025/06/04/middleeast/israel-military-gaza-aid-shoo… | |
## AUTOREN | |
Lisa Schneider | |
Sami Ziara | |
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