# taz.de -- Spielfilm über Pflege der Eltern: Im Betreuungshamsterrad | |
> „Zikaden“ von Ina Weisse ist ein Film der Zwischentöne, getragen von | |
> fantastischen Darstellerinnen. Für ihre Sehnsüchte lässt ihr Leben kaum | |
> Platz. | |
Bild: Annäherung bei sommerlichen Temperaturen: Isabell (Nina Hoss) und Anja (… | |
Es ist einer der vielen sprechenden Momente in Ina Weisses behutsamem Drama | |
„Zikaden“. Anja ([1][Saskia Rosendahl]) blickt rauchend auf den Fluss, als | |
Isabell (Nina Hoss) die Fußgängerbrücke passiert. | |
Die zwei Frauen könnten unterschiedlicher nicht sein, Erstere ist eine | |
impulsive Arbeiterin aus der Provinz, Letztere eine Kosmopolitin aus | |
bildungsbürgerlichem Haus. Obwohl beide nicht rauchen, wie sie sagen, | |
rauchen sie doch eine zusammen: ein kurzer, sehr filmischer Moment des | |
gemeinsamen Innehaltens und Brückenbauens über Stände, Hintergründe und | |
Altersunterschiede hinweg. | |
Anja wohnt mit ihrer Tochter Greta in dem gesichtslosen, von der Natur | |
umgebenen Örtchen irgendwo in der brandenburgischen Provinz. Sie hält sich | |
mit schlechtbezahlten Jobs über Wasser und versucht, Greta eine gute Mutter | |
zu sein. Maklerin Isabell rotiert zwischen ihrem Leben in Berlin, dem von | |
ihrem Vater entworfenen Wochenendhaus im Dorf, ihrer krisengeplagten Ehe | |
mit dem französischen Mann Philippe (Vincent Macaigne) und den betagten | |
Eltern. | |
Letztere sind seit dem Schlaganfall des Vaters, einem alten, über alles | |
seinen Schatten werfenden Architekten, auf Pflegepersonal angewiesen. Nach | |
[2][Eva Trobischs „Ivo“] um eine ambulante Palliativpflegerin oder Claudia | |
Rorarius’ „Touched“ über das Verhältnis einer Pflegerin zu ihrem | |
querschnittgelähmten Patienten holt auch „Zikaden“ das Thema Pflege aufs | |
Tablett. | |
## Regisseurin lässt autobiografisches miteinfließen | |
Weisse inszeniert ihren dritten Spielfilm nach eigenem Drehbuch als zum | |
Bersten zurückhaltend erzähltes Drama. Wenige verstehen es, aus der | |
filmischen Ruhe und selbstbewusst gesetzten Leerstellen eine solche Kraft | |
zu ziehen. | |
In ihrem Debüt „Der Architekt“ entwarf sie das dichte Psychogramm einer | |
zerrütteten Familie. Danach ließ die Regisseurin und Schauspielerin mit | |
„Das Vorspiel“ ein Drama um eine ebenfalls von Hoss gespielte Violinistin | |
und Musiklehrerin folgen, die an den eigenen Ansprüchen zerbricht. Die | |
Regisseurin lässt in ihre Filme Konstellationen und Erfahrungen aus ihrem | |
eigenen Leben einfließen und hat in ihrem neuen Film ihre eigenen Eltern, | |
den Architekten Rolf und die Lehrerin Inge Weisse, besetzt. | |
In „Zikaden“ beobachtet sie mit einfühlsamem, völlig vorurteilsfreiem | |
Blick, wie sich die beiden Frauen in der sommerlichen Hitze annähern. Ganze | |
gelebte Leben und Enttäuschungen tun sich in Blicken und Gesprächen auf: | |
Isabells Unzufriedenheit mit ihrem Mann, ihr Dasein im Schatten des Vaters, | |
mit Blick auf Greta, der sie näherkommt, auch ein unerfüllter Kinderwunsch. | |
Anja bleibt rätselhaft. Wer ist sie eigentlich und was will sie wirklich? | |
„Du bist schön“, sagt sie einmal, als sie Isabell schwitzend im elterlichen | |
Haus hilft. | |
## Eine vieldeutige Architektur | |
Ein Begehren ist den Bildern von Kamerafrau Judith Kaufmann in einigen | |
Momenten fest eingeschrieben, ohne dass es jemals auserzählt würde. Weisses | |
Film selbst ist eine vieldeutige Architektur. „Man kann den Raum auf | |
verschiedene Arten nutzen. Der Architekt wollte nur einen Rahmen geben, und | |
man muss selber sehen, was man damit macht“, erklärt Isabell einmal in | |
ihrer Rolle als Maklerin: ein Satz, der auch auf den fein gebauten Film | |
komplett zutrifft. | |
Peu à peu entwickelt sich „Zikaden“ zu einem transgenerationalen Porträt | |
von Eltern-Kind-Beziehungen in verschiedenen Lebensstadien. Isabell | |
organisiert wechselnde Pflegekräfte aus dem Ausland und schlägt sich mit | |
ihrem alten Herrn herum, der an seinem Wochenendhaus hängt. „Das ist mein | |
Entwurf, den verkauf ich nie“, grummelt er seine Tochter mit | |
angeschlagener, genuschelter Stimme an. | |
Anja wohnt mit der Tochter zur Untermiete bei einem alten Ehepaar und | |
beginnt, auf einer Bowlingbahn zu jobben. Komplementiert wird das Bild | |
durch die kindliche Perspektive, die der Film immer wieder einnimmt, wenn | |
er Greta und ihren Freunden auf ihren Steifzügen durchs Dorf und bei | |
kleinem und gewaltigem Unfug folgt. Dass der Schrecken immer mit weht, | |
suggeriert gleich die erste Filmszene, in der Anja ihre Tochter in einem | |
Tierkadaver stochernd vorfindet. | |
## Zu wenig Platz für die eigenen Sehnsüchte | |
„Zikaden“ ist ein Film der Zwischentöne, der von den fantastischen | |
Hauptdarstellerinnen getragen wird. Rosendahl wirkt mit ihrer zwischen | |
Unsicherheit und Stärke changierenden Impulsivität, als sei sie aus Sabrina | |
Sarabis feinsinnigem Drama „Niemand ist bei den Kälbern“ in Weisses Film | |
hineingefallen. Und Hoss spielt wieder intensiv eine innerlich aufgewühlte, | |
nach außen um Fassung ringende Frau. | |
Auch wenn die Hintergründe ihrer Figuren sehr unterschiedlich sind, so | |
sind beiden Frauen im Betreuungshamsterrad doch zusammengeschweißt als | |
Getriebene, deren eigene Sehnsüchte wenig Platz hatten und haben. Dass | |
Weisse dieser Beziehung die Ambivalenzen nicht nimmt, macht „Zikaden“ umso | |
eindrücklicher. Das führt nämlich am Ende des Films zu zwei Szenen, die | |
lange nachhallen: Momente, in denen sich ohne Worte, nur mit ausgetauschten | |
Blicken, ganze Welten auftun. | |
19 Jun 2025 | |
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## AUTOREN | |
Jens Balkenborg | |
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