# taz.de -- Die Wahrheit: Kranzkuchenzahn der Zeit | |
> Theoretisch kann man im Alter auch mit Jüngeren mithalten. Praktisch | |
> macht man es sich lieber beim Kuchen mit der Tante gemütlich. | |
Bald ist es soweit: Ich werde tatsächlich soixante ans, sesenta años, sixty | |
years, also sechzig Jahre alt. Ja, nur eine Zahl, keine Frage. Und | |
selbstverständlich ist mir diese Zahl nicht anzusehen. Ich stehe zu meinen | |
fünf Stunden Schlaf vor Mitternacht, drei Litern Wasser täglich und | |
regelmäßigen Sportübungen, um mir die jugendliche Frische zu erhalten. Mit | |
Erfolg, wie mir die Nachbarin häufig bestätigt. Alles bestens. | |
Deshalb gehe ich auch ganz unbefangen zwischen all den Teenagern in den | |
Zweibuchstaben-Modehäusern shoppen. Vorigen Monat brauchte ich etwas | |
Hübsches für die Jubiläumsfeier im Büro und fischte mir ausgerechnet eine | |
Bluse mit grau-beigen Blüten heraus. | |
Erst zu Hause wurde mir klar, dass hier der Geschmack einer bald | |
Sechzigjährigen zugeschlagen hatte. Mit dem „ironisch tragen“ war es | |
vorbei. Ich brachte die grau-beige Bluse schnell in den Laden zurück und | |
murmelte, dass sie meiner Mutter nicht gepasst hätte. | |
Doch solch sonderbare Alltagsmomente häufen sich nun. Als ich der neuen | |
Kollegin in Echtzeit von meinem Spargel-Abendessen erzählte, fiel mir | |
hinterher auf, dass sie sich derweil auf ihrem Smartphone drei Paar Schuhe | |
bestellt hatte. Undankbare Zuhörerin. Aber schön, dass Birkenstock-Sandalen | |
jetzt auch für junge Leute cool sind, nur leider ohne Socken, wie ich | |
hörte. | |
Gegen Mittag versuchte ich dem netten Herrn an der Käsetheke die | |
Geschichte von meinen Schulterschmerzen zu verkaufen. Doch anstatt zu | |
staunen, nahm er einfach die nächste Kundin dran. Da läuft doch was schief | |
im Leben der Menschen. Niemand hat mehr Zeit. Als mir danach in der Bahn | |
ein Mann seinen Platz anbot, schnaubte ich vor Wut, bevor ich mich | |
hinplumpsen ließ. Glaubte der, fitter zu sein als ich, oder was? | |
Zumindest theoretisch plane ich, demnächst an einem Halbmarathon | |
teilzunehmen. Sobald sich das Wetter entspannt hat, werde ich mit dem | |
Training beginnen. Nach der langen Trockenheit hat es nun ja ziemlich | |
geregnet. Als dann zwischendurch die Sonne schien, besuchte ich meine | |
Tante. Sie ist 85. Die ganze Wohnung stand voll mit leeren Weinflaschen. | |
Erstaunlich, sie wirkte bisher eigentlich immer recht nüchtern. So kann man | |
sich täuschen. | |
Um den Flur wieder begehbar zu machen, packte ich das bei jedem Schritt | |
klirrende Leergut in eine Tüte. Doch sie protestierte: „Halloo, was machst | |
du? Die Flaschen sind mein Schutz gegen Einbrecher! Die brauche ich. Nix | |
wegräumen!“ Und ich brauchte einen relativ langen Moment, um zu begreifen, | |
wie schlau sie war: Sobald die Einbrecher im Dunkeln zur Tür hereinkämen, | |
stolperten sie und verursachten dabei unweigerlich Lärm. Meine Tante würde | |
aufwachen und sofort die Polizei rufen. Genial. | |
Daraufhin pürierte ich uns beiden erst einmal ein schönes Stück Frankfurter | |
Kranz. Passt fein eingetuppert immer prima in meine total angesagte | |
Crossbody-Bag zwischen die Papiertaschentücher und die Pfefferminzbonbons. | |
4 Jun 2025 | |
## AUTOREN | |
Claudia Römer | |
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