# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Ostern ohne Auferstehung | |
> Switlana vermisst ihren Mann. Der Pfarrer zelebriert am laufenden Band | |
> Trauerfeiern. Das Osterfest in Krywyj Rih ist dieses Jahr bedrückter als | |
> sonst. | |
Bild: Die Trauer ist allgegenwärtig in der Ukraine. auch zum Auferstehungsfest | |
Krywyj Rih taz | Ostern ist in der ukrainischen Tradition der wichtigste | |
Feiertag, sogar wichtiger als Weihnachten. Man sagt, dass Ostereier stärker | |
sind als kommunistische Propaganda. Eier wurden auch in der Sowjetzeit | |
bemalt und Osterkuchen gebacken. Die Ostertraditionen werden auch im Krieg | |
in Krywyj Rih weiter gepflegt. | |
Die bescheidene Sankt-Pantelejmon-Kirche befindet sich neben dem alten | |
Friedhof der Geburtsstadt von Präsident Wolodymyr Selenskyj, nicht weit von | |
den Plattenbauten des Stadtteils Zaritschnyi. Im Kirchhof bemerken die | |
Leute häufig nicht, welche Sprache jemand benutzt. Krywyj Rih Stadt | |
entwickelte sich aus mehreren kleinen Siedlungen entlang der | |
Eisenerzvorkommen zum wichtigsten Metallurgiezentrum des Zarenreichs, dann | |
der Sowjetunion und jetzt der Ukraine. Menschen aus vielen Ländern | |
wanderten zu. In sämtlichen Familien gehört Zweisprachigkeit zum Alltag. | |
Manche Leute sprechen Russisch, immer mehr ukrainisch, aus dem Gemisch der | |
slawischen Sprachen entsteht Ssurzhyk. | |
Rund 300 Gemeindemitglieder bilden an diesem Ostersonntag eine lange Reihe. | |
Alle tragen Osterkörbe. Der mittlere Preis des Korbes für eine 3-köpfige | |
Familie liegt in diesem Jahr bei ca. 1300 Hryvna (32 Euro). Darin sind | |
bunte Pysanky und Kraschanky (hartgekochte und traditionell bemalte Eier), | |
Pasky (Osternkuchen aus süßem Hefeteig), Kagor (roter Süßwein); viele Leute | |
bringen auch hausgemachte Wurst, Räucherspeck, Kuchen mit Fleisch, jungen | |
Knoblauch und besonders leckere Quarkpasky mit. | |
Der Gottesdienst beginnt mit einer von Gott gesegneten Mahlzeit. Viele | |
Leute treffen am Kirchhof Verwandte und Bekannte und machen gemeinsame | |
Fotos. Die Frauen zeigen einander ihren Korbinhalt, wichtig ist auch der | |
Austausch von Pysanky. | |
Viele Frauen sind festlich gekleidet, manche ältere Männer tragen | |
Sportanzüge; das war die lokale Mode aus den 90ern. Die Jugendlichen tragen | |
häufig Wyschywankas (traditionelle Hemden mit buntem handgesticktem | |
Ornament). „Deine Wyschywanka ist mega!“ – während des Segnens sagt der | |
Panotets (Pfarrer) Swjatoslaw nicht nur die traditionelle Osterbegrüßung | |
„Christus ist auferstanden!“, sondern kümmert sich auch um die Stimmung; er | |
ist witzig und spritzig. Als er seine Runde vollendet hat, sind 250 | |
Personen dazugekommen; er beginnt eine neue Runde. | |
## Feierlichkeiten trotz Krieg | |
Der Pfarrer begrüßt eine Frau mit einem Schulkind und fügt hinzu: „Viel | |
Kraft für Sie und für Ihren Mann.“ Ihr Ehemann ist Soldat und befindet sich | |
nach einer Verwundung in der Reha. „Sehr viele unserer Gemeindemitglieder | |
sind jetzt in den Streitkräften, mein älterer Sohn auch. Zwei Priester | |
unserer Kirche sind Kapläne. Der eine wurde wegen einer schweren Verwundung | |
demobilisiert“, erzählt Panotets Swjatoslaw nach seinem sechsstündigen | |
Marathon aus Gottesdienst und Segnen. | |
Obwohl viele Menschen die Stadt verlassen haben, ist die Zahl der Menschen, | |
die zu den großen Feiertagen in die Kirche kommen, nicht gesunken. Die | |
Gläubigen identifizieren sich immer häufiger mit der [1][ukrainischen | |
Orthodoxen Kirche]. Natürlich stellt sich auch die Frage nach einem | |
[2][potenziellen Waffenstillstand zu Ostern]. | |
„Alles, was Frieden bringt, ist gut, und wir hoffen darauf“, sagt Panotets | |
Swjatoslaw. „Aber wir müssen auch auf das Schlimme vorbereitet sein. Wie | |
können wir dem glauben, der uns hinterhältig in der Nacht angegriffen hat | |
und so viel Leid gebracht hat? Manche Wochen habe ich zwei- bis dreimal die | |
Woche die Trauerfeier gehalten. Das waren unsere Verteidiger. Emotional war | |
das sehr erschöpfend. Die Ukrainer gelten als unbeugsam, doch Verhältnis | |
der Kräfte ist nicht gleich. Deshalb brauchen wir einen Waffenstillstand; | |
wie wir den nutzen werden, ist eine andere Frage. Ich kommuniziere viel mit | |
den Soldaten, und sie sagen, dass uns langsam die Luft ausgeht, der | |
Aggressor lässt sich nicht beruhigen. Er braucht die Ukraine als | |
Sprungbrett für den weiteren Sprung nach Europa. Die Russen wiederholen den | |
Gang der Nazis, die waren auch mit der Tschechoslowakei und Polen nicht | |
zufrieden. Wir stehen fest und geben den Europäern die Möglichkeit, sich | |
vorzubereiten, doch unsere Kräfte sind nicht unendlich.“ | |
## Schwache Hoffnung auf Waffenstillstand | |
Switlana Kozina erinnert sich gut daran, wie im März ein Hotel in der Nähe | |
ihres Hauses zerstört wurde – und an die schrecklichen Ereignisse auf dem | |
Spielplatz, wo eine russische Iskander-M-Rakete mit Streubombensprengkopf | |
vor einigen Wochen 20 Menschen tötete, darunter viele Kinder. Die 34jährige | |
ist selbst Mutter von zwei Kindern. Sie arbeitet als Krankenpflegerin im | |
Rettungsdienst. Sie ist Alleinverdienerin, etwa 4000 Hrywna (knapp 100 | |
Euro) Gehalt im Monat. | |
„Ein Waffenstillstand zu Ostern für einen Monat – das kann ich nicht | |
glauben. So viele wurden schon verkündet, und dennoch wiederholen sich die | |
Bombenanschläge ständig“, sagt sie. Seit Anfang Februar gilt ihr Mann als | |
vermisst. Er war Bergarbeiter und war zunächst vom Kriegsdienst | |
freigestellt. Doch im Jahr 2024 wurde die Zahl der gesetzlich geschützten | |
Arbeitskräfte stark reduziert. Mitte Juni 2024 wurde er eingezogen, kurz | |
nach dem 12. Geburtstag ihrer älteren Tochter, und nach der Ausbildung der | |
36. Marinebrigade zugeteilt. | |
Sein letzter bekannter Einsatz war im russischen Dorf Swerdlikowo im Gebiet | |
Kursk. Das letzte Gespräch mit ihm führte Switlana am 29. Januar. Sie hofft | |
immer noch, dass es nicht das letzte war. Sie hat seinen Namen auf einer | |
Liste von Kriegsgefangenen in einem russischen Telegram-Kanal gefunden. | |
Eine offizielle Bestätigung gab es bisher nicht. Auch eine Anfrage beim | |
Internationalen Roten Kreuz brachte keine Klarheit. Das Ergebnis der | |
amtlichen Untersuchung lautet: „Ihr Mann ist vermutlich im Einsatz | |
gefallen.“ | |
„Ich will Gewissheit – die Ungewissheit ist sehr schwer zu ertragen. Ich | |
habe nicht das Gefühl, dass wir ihn verloren haben. Ein Waffenstillstand | |
und ein Gefangenenaustausch könnten uns Trost bringen. Doch die letzten | |
Raketenangriffe zeigen, dass das wohl unmöglich ist.“ | |
## In ständiger Sorge | |
[3][Krywyj Rih wird sehr häufig angegriffen]. In den letzten acht Monaten | |
wurde die Stadt viel stärker bombardiert als zuvor, die Zahl der zivilen | |
Opfer ist erheblich gestiegen. Manche vermuten, dass der Hass und die Wut | |
Russlands daher rühren, dass Präsident Selenskyj hier geboren wurde. | |
Der Krieg hat die Stadt verändert. Die Allee der gefallenen Helden zählt | |
bereits Tausende Verteidiger, die Zahl der zivilen Opfer steigt jeden | |
Monat, viele Menschen sind ausgewandert. Wieviele der einst 650.000 | |
Einwohner noch in Krywyj Rih leben, ist schwer zu sagen. Man sieht viele | |
Autos mit Kennzeichen aus den Gebieten Cherson, Saporischschja, Donezk und | |
Mykolajiw – Frontgebiete. Nach Beginn des Krieges wurden zahlreiche | |
metallurgische Fachkräfte aus Mariupol und Saporischschja hierher | |
evakuiert. Doch Stromausfälle, Raketen- und Drohnenangriffe verursachen | |
ständig neue Sorgen. | |
„Das Schlimmste für mich ist, dass wir – und besonders die Kinder – diese | |
Kriegsrealität bereits als normal betrachten. Unsere jüngste Tochter ist | |
elf Jahre alt, und ein Großteil ihres Lebens ist geprägt von Flucht, | |
Luftalarm, ständig unterbrochenem Schulunterricht und natürlich der | |
Trennung vom Vater“, erzählt Inna. Die 43jährige gehört zur Mittelschicht. | |
Seit 20 Jahren beschäftigt sich ihr Familienunternehmen „Akzent“ mit | |
Außengestaltung, Werbung und Design und ist weit über die Stadtgrenzen | |
hinaus bekannt. | |
Eine Kundin betreibt ein Café nahe dem Stadtzentrum. Im Sommer 2024 | |
explodierte eine russische Rakete direkt vor dem Gebäude. Alle Fenster | |
wurden herausgerissen, die Fassade stark beschädigt. Sie sanierte alles und | |
bestellte neue Außengestaltung. Das Café konnte ein halbes Jahr | |
weiterarbeiten – bis ein weiterer Raketenangriff erneut alles zerstörte. | |
## Keine Hilfe | |
„Sie kam wieder zu uns und wollte alles von vorne beginnen. Auf meine | |
Frage, was sie antreibt, obwohl sie ständig neue Ausgaben hat, antwortete | |
sie: ‚Ich kann mein Personal nicht verlieren. Man darf nicht stehen | |
bleiben.‘ Sie arbeitet nun mit Verlust. Das ist kein normales Business mehr | |
– das erschöpft“, erzählt Inna. Sogar große Unternehmen verzögern ihre | |
Zahlungen auf unbestimmte Zeit. | |
Auch das Büro von „Akzent“ wurde an einem Herbstabend durch eine russische | |
Rakete beschädigt. Der Zaun, das Dach, sämtliche Fensterscheiben sowie | |
einige Autos wurden durch Splitter und die Druckwelle zerstört. Die Rakete | |
selbst schlug nur 30 Meter vom Gebäude entfernt ein. Es gab keinerlei | |
Unterstützung durch die Stadt. Die öffentlichen Versorgungsdienste lehnten | |
den kostenlosen Abtransport der Zaunreste ab. Das Unternehmen musste die | |
gesamte Last allein tragen. So funktioniert Business in einem Land, in dem | |
es keine Versicherungen gibt. | |
Und das, obwohl beide Männer der Mitgründerin sich vor drei Jahren | |
freiwillig zu den Streitkräften gemeldet haben. Zwei Frauen, die allein | |
ihre Kinder erziehen und ein Geschäft führen, wurden im Stich gelassen. Es | |
kam zum inneren Zusammenbruch. Die Herausforderungen sind enorm. | |
## Der Krieg zerstört nicht nur Gebäude | |
„Wir arbeiten nur weiter, weil es extrem schwer ist, den Mitarbeitern zu | |
erklären, warum wir aufhören sollten. Es geht um 30 Menschen mit ihren | |
Familien, die von uns abhängig sind.“ | |
Seit über drei Jahren ist die Familie nur gelegentlich zusammen. Wenn Innas | |
Ehemann kurzfristigen Fronturlaub bekommt, sieht er seine Kinder, die keine | |
normale Kindheit erleben, und seine Frau, deren Kräfte fast erschöpft sind. | |
„Wir als Gesellschaft brauchen Erholung, denn diese Realität ist belastend. | |
Ich verstehe vollkommen, dass die aktuelle Lage in der Ukraine sehr | |
schwierig ist. Unsere Verhandlungsposition ist heute deutlich schwächer als | |
noch vor zwei Jahren. Vielen Menschen gehen die Kräfte aus. Ich lese keine | |
Bücher mehr, habe alle Hobbys vergessen – nur Sport hilft mir ein wenig, | |
den Kopf freizubekommen. Unsere ältere Tochter macht bald ihr Abitur – ihre | |
Zukunft bereitet mir Sorgen.“ Der Krieg zerstört nicht nur Gebäude. Er | |
zerstört auch Familien und Menschen. | |
21 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Grygorij Palij | |
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