# taz.de -- Gebühren für Geflüchtetenunterkunft: 54 Euro pro Quadratmeter | |
> Asylbewerber müssen ihre Unterkunft selbst bezahlen, wenn sie arbeiten. | |
> Wegen unverhältnismäßiger Kosten klagt Ayardeh gegen den Landkreis | |
> Oberhavel. | |
Bild: Mehdi Ayardeh vor dem Verwaltungsgericht in Frankfurt (Oder) | |
Berlin taz | Mehdi Ayardeh kommt zehn Minuten zu spät. Er hat das | |
Gerichtsgebäude nicht gefunden – das Zweitgebäude des Verwaltungsgerichts | |
in Frankfurt (Oder) liegt versteckt zwischen Sozialamt und Artztpraxen. Die | |
10 Minuten machen keinen großen Unterschied gegen die sechs Jahre, die | |
Ayardeh auf diese mündliche Verhandlung an einem Donnerstag Mitte Dezember | |
gewartet hat. 2018 reichten er und acht weitere Geflüchtete Klage gegen den | |
Landkreis Oberhavel ein. Ihr Vorwurf: Der Kreis habe von ihnen | |
[1][überteuerte Gebühren für ein Zimmer in der Geflüchtetenunterkunft | |
verlangt.] | |
Ayardeh kommt aus Afghanistan. 2015 flüchtet er nach Deutschland und | |
beantragt Asyl. Aus der Erstaufnahmeeinrichtung wird er in den | |
brandenburgischen Landkreis Oberhavel verteilt und landet in der | |
Gemeinschaftsunterkunft Bärenklau. Viererzimmer mit Doppelstockbetten, | |
geteilte Küche und Bad, eingeschränkte Besuchsrechte, kaum Privatsphäre – | |
wie in den meisten Sammelunterkünften gestaltet sich ein Leben im Heim mit | |
bis zu 240 Mitbewohner*innen prekär. | |
Schon im August 2016 fängt Ayardeh bei einer Elektrofirma an, 10 Euro | |
Stundenlohn. Dass Menschen bereits während des Asylverfahrens Arbeit | |
aufnehmen, ist keine Seltenheit. Nach drei Monaten mit einer | |
Aufenthaltsgestattung gilt kein absolutes Beschäftigungsverbot mehr, die | |
Arbeitserlaubnis hängt dann von der zuständigen Ausländerbehörde ab. | |
Im Oktober 2018 kommt der Gebührenbescheid. Der Landkreis verlangt von nun | |
an für die Unterbringung monatlich 288 Euro von Ayardeh. Im | |
Gerichtsverfahren rechnet seine Anwältin Anja Lederer vor: Teilt man das | |
19,3 Quadratmeter große Zimmer plus Gemeinschaftsräume auf die | |
Bewohner*innen auf, standen Ayardeh ungefähr sechs Quadratmeter zur | |
Verfügung. Daraus ergäbe sich ein Quadratmeterpreis von 54 Euro. „Ein | |
direkter Vergleich mit den allgemeinen Preisen auf dem Wohnungsmarkt ist | |
zwar nicht zulässig“, sagt Lederer. Offensichtlich erfordere der Betrieb | |
einer Gemeinschaftsunterkunft andere Kosten als ein Mietshaus. „Aber ich | |
meine schon, dass die Mietspiegel eine Rolle spielen müssten.“ Wenn der | |
Quadratmeterpreis die ortsüblichen Mieten um ein Vielfaches übersteige, | |
dann sei das für sie „Mietwucher“. | |
Ayardeh selbst ärgert sich damals vor allem über das Signal. „Jemand, der | |
arbeitet, muss zahlen, und jemand, der sich drückt, nicht. Ich habe Steuern | |
gezahlt, eine Schulung gemacht mit meinem eigenen Geld.“ Er und andere | |
Bewohner*innen legen deshalb Widerspruch ein. | |
## Arbeiten wird unrentabel | |
Geflüchtetenorganisationen kritisieren außerdem, dass es sich | |
[2][angesichts der hohen Gebühren kaum noch lohnt zu arbeiten]. Die | |
Lebensbedingungen in den Unterkünften erschwerten es ohnehin, einer | |
regelmäßigen Arbeit nachzugehen, sagt Kirsten Neumann vom Brandenburger | |
Flüchtlingsrat. „Man wird arbeitsunfähig gemacht, wenn man in diesen | |
Unterkünften lebt.“ Die Gebühren für berufstätige Geflüchtete erhöhten … | |
Hürden für ein Ankommen in Deutschland noch. | |
So geht es auch Afshan Raza, die im Sommer 2023 nach Deutschland kommt. Sie | |
wird in eine Gemeinschaftsunterkunft in Neuruppin geschickt – obwohl ihr | |
Ehemann bereits seit mehreren Jahren in einer Unterkunft in Hennigsdorf | |
lebt. Um trotzdem zusammenwohnen zu können, sucht Razas Mann eine Wohnung | |
in Hennigsdorf. Raza beantragt einen Transfer dorthin. Darauf hätte sie | |
rechtlich betrachtet Anspruch, die Einheit der Familie wird grundgesetzlich | |
geschützt. Doch die Behörde antwortet laut Raza einfach nicht. | |
Im Oktober 2024 fängt sie bei einem Verpackungsunternehmen an zu arbeiten. | |
„Ich kann nicht nur herumsitzen, das stresst mich“, erzählt sie der taz. | |
Kurze Zeit später dann der Brief von der Stadt Neuruppin: Weil sie nun ein | |
Einkommen hat, soll sie 350 Euro monatlich für ihre Unterbringung zahlen. | |
„Obwohl ich mein Bett da gar nicht benutze.“ Sie empfindet den | |
Gebührenbescheid wie eine „große Attacke“ – und kann es nicht fassen, d… | |
ihr durch das Arbeiten ein Nachteil entsteht. „Das ist einfach ein Verlust | |
für die deutsche Regierung. Bei solchen Gebühren arbeiten Leute lieber | |
nicht und beziehen stattdessen Sozialleistungen.“ | |
Theoretisch können Kommunen auch geringere oder gar keine Gebühren in | |
Rechnung stellen. In Brandenburg fingen die ersten Landkreise 2018 damit | |
an, berufstätige Asylbewerber*innen für ihre Unterbringung selbst | |
zahlen zu lassen. Mittlerweile fallen der Anwältin Lederer kaum noch | |
Landkreise ein, die keine Gebühren eintreiben. In den anderen Bundesländern | |
sieht es ähnlich aus: Gebühren für berufstätige Asylbewerber*innen | |
sind gang und gäbe, nur die Höhen variieren stark. Denn manche Kommunen | |
verlangen von den Selbstzahler*innen dieselbe Summe, die sie für | |
Geflüchtete ohne Einkommen kalkulieren, um die Kosten dann vom Bund | |
zurückerstattet zu bekommen. | |
## Unterbringung ist für Kommunen teuer | |
Diese kalkulierten Kosten können je nach Unterkunft auf mehrere hundert | |
Euro pro Person anwachsen. „Das Problem bei den Gemeinschaftsunterkünften | |
ist, dass man immer hinterherläuft. Kommen viele Flüchtlinge, muss man | |
schnell reagieren und zu horrenden Preisen irgendwelche Sachen mit | |
bescheidener Qualität aus dem Boden stampfen. Kommen dann wieder weniger | |
Leute, muss man die Einrichtungen wieder schließen, sonst beschwert sich | |
der Rechnungshof“, sagt Timmo Scherenberg. Er arbeitet beim hessischen | |
Flüchtlingsrat und hat sich jahrelang mit den Gebühren für | |
Selbstzahler*innen beschäftigt. Besonders Kommunen, die sich zum | |
Beispiel nicht rechtzeitig um die Unterbringung von den vielen ukrainischen | |
Geflüchteten gekümmert hätten, müssten dann auf kostspielige Lösungen | |
zurückgreifen. Zugleich gebe es den Anreiz, sich so viel Geld wie möglich | |
vom Bund zurückzuholen. „Die Leute, die arbeiten, die sind dann der | |
Kollateralschaden.“ | |
Doch warum ziehen die selbstzahlenden Geflüchteten nicht einfach um? | |
Tatsächlich können Asylbewerber*innen Wohnungen anmieten. Dabei | |
unterliegen sie jedoch in den meisten Bundesländern einer | |
Wohnsitzverpflichtung: Sie müssen im Landkreis ihrer | |
Gemeinschaftsunterkunft leben. Das steht als Vermerk in der | |
Aufenthaltsgestattung. | |
Dadurch stoßen Geflüchtete bei der Wohnungssuche auf große Hürden. Es kann | |
sein, dass in ihrem Landkreis ohnehin extrem wenig Wohnraum zur Verfügung | |
steht, wie etwa in Oberhavel. Um das zu beweisen, berichtet Anwältin | |
Lederer in der Verhandlung von einer geflüchteten Frau, die ebenfalls in | |
Bärenklau wohnte. Wegen der Corona-Pandemie schwebte die chronisch kranke | |
Frau in der Gemeinschaftsunterkunft in Lebensgefahr. Der Landkreis war | |
gerichtlich dazu verpflichtet, ihr eine Einzelwohnung anzumieten – und | |
brauchte dafür über ein Jahr. „Wenn sogar der Landkreis nichts findet, wie | |
soll es dann Herr Ayardeh?“ | |
Dazu kommt die Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt: „Ich habe so viel | |
gesucht. Dann habe ich ein Zimmer gefunden für 550 Euro, trotzdem dachte | |
ich, ich nehme es. Aber dann hat der Vermieter meinen Aufenthalt gesehen | |
und meinte ‚Nein‘“, erzählt Ayardeh der taz. Nicht nur Vorbehalte gegen … | |
„grüne Papier“, also seine Aufenthaltsgestattung, stehen der Wohnungssuche | |
im Weg – Ayardeh hat auch den Eindruck, dass er aus rassistischen Gründen | |
nicht erwünscht ist. „Wir sagen immer, in Brandenburg wollen die Leute | |
lieber unter sich bleiben.“ Erst 2022, nach sechs Jahren Suche, findet | |
Ayardeh eine Wohnung in Hennigsdorf. | |
## Forderung nach Unterbringung nach Sozialstaatsprinzip | |
Lederer kommt deshalb zu dem Schluss: Ihr Mandant hatte jahrelang keine | |
Wahl, als in Bärenklau zu bleiben. Sie argumentiert deshalb, dass der | |
Landkreis Ayardeh nach dem Sozialstaatsprinzip unterbringen musste. | |
Andernfalls hätte der Landkreis Ayardehs Obdachlosigkeit in Kauf genommen. | |
„In solchen Fällen ist nur eine symbolische Gebühr zu erheben, weil die | |
Leute keine Alternative haben“, sagt sie. Sie stützt ihre Argumentation auf | |
ein Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs. Der urteilte 2021 in | |
einem sogenannten Normenkontrollverfahren, dass Bayerns Gebührenordnung | |
gegen das Sozialstaatsprinzip verstieß, und forderte eine Begrenzung sowie | |
eine nachvollziehbare und transparente Gebührenkalkulation. | |
Der Richter Reiner Roeling geht bei dem bayerischen Urteil nicht mit. Er | |
bezieht sich stattdessen auf die Einschätzung des brandenburgischen | |
Oberverwaltungsgerichts, das ebenfalls mit einer Normenkontrolle befasst | |
war – und dem Landkreis Recht gab. „Die Rechtsprechung differenziert | |
zwischen staatlicher Unterbringung und Wohnungsmarkt“, sagt Roeling. „Und | |
es ist ja nicht so, dass die 288 Euro die tatsächlichen Kosten decken, der | |
Landkreis steckt da Geld rein“, sagt Roeling. | |
„Niemand zwingt den Landkreis dazu, jahrelang Gemeinschaftsunterkünfte zu | |
betreiben, anstatt sich andere Lösungen zu suchen“, unterbricht Simone | |
Tetzlaff den Richter aus dem Publikum. Sie arbeitet für die Kooperation für | |
Flüchtlinge Brandenburg und unterstützt die Klage. Die Chancen auf ein | |
erfolgreiches Urteil stehen zwar schlecht, das lässt Roeling im Verfahren | |
mehrmals durchblicken. Er wird die Entscheidung den Verfahrensbeteiligten | |
schriftlich zuschicken. Dennoch gibt der Prozess Anlass, auf das zentrale | |
Problem hinzuweisen. | |
Ob Kostenkalkulation, der Unterschied zwischen Miete und Gebühr oder eine | |
angemessene Obergrenze, über all das lässt sich streiten. Fest steht: | |
Gemeinschaftsunterkünfte stellen im Vergleich zu Wohnverbünden und | |
Privatwohnungen nicht nur die [3][schlechteste aller Wohnformen für | |
Asylbewerber*innen] dar, sondern auch die teuerste für den Staat. | |
„Es wäre ganz anders, wenn man Wohnraum inmitten der Stadt vorhalten | |
würde“, meint Simone Tetzlaff. Kirstin Neumann sagt: „Da wünscht man sich | |
einfach mehr Beweglichkeit von der Politik.“ Und Mehdi Ayardeh berichtet: | |
„Es ist noch schlimmer geworden. Ich habe einen Freund, der wohnt seit acht | |
Jahren in Bärenklau, er ist Lkw-Fahrer und findet keine Wohnung.“ | |
22 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Nora Noll | |
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