| # taz.de -- Proteste in Serbien: Studenten gehen auf die Barrikaden | |
| > Hochschüler haben landesweit über 30 Fakultäten besetzt. Sie fordern | |
| > Rechtsstaatlichkeit. Der Auslöser der Proteste ist ein tödliches Unglück. | |
| Bild: Studierende blockieren am Freitag vergangener Woche den Verkehr in der Ha… | |
| Belgrad taz | „Obwohl ihr glaubt, dass ich wie Assad bin, dass ich fliehen | |
| werde – ich bin es nicht“, schrieb [1][Serbiens Staatspräsident Aleksandar | |
| Vučić] auf seinem Instagram-Profil. Er beteuerte, für Serbien kämpfen, dem | |
| serbischen Volke dienen zu wollen, jedoch „niemals“ Ausländern und jenen, | |
| die Serbien „zerstören“ wollten. | |
| Zu dieser dramatischen Aussage haben den serbischen Autokraten | |
| Studentenproteste bewegt: Über 30 Fakultäten haben Studenten bisher | |
| „besetzt“, der Lehrbetrieb ist blockiert. Seit er vor einer Woche über die | |
| Anzahl der Studenten, die demonstrieren, spottete und sie bezichtigte, von | |
| in- und ausländischen Bösewichten Geld zu bekommen mit dem einzigen Ziel, | |
| ihn zu entmachten, hat sich ihre Anzahl verdoppelt. | |
| Tijana, 23, hat die Nacht auf Samstag an der Fakultät für | |
| Politikwissenschaften (FPN) in Belgrad verbracht. Es ist eine von über 30 | |
| Fakultäten in vier serbischen Universitätsstädten, die Studenten besetzt | |
| haben. Fast täglich „fallen“ neue Fakultäten. | |
| „Der Status der Bürger im serbischen Staatssystem hängt von ihrer | |
| politischen Überzeugung ab. Da gibt es keine Gerechtigkeit“, sagt die | |
| Studentin im letzten Studienjahr. | |
| ## Absurde Beschuldigungen | |
| Hochschüler fordern Rechtsstaatlichkeit in dem Staat, in dem nur noch der | |
| Wille von Vučić zählt. Das Regime findet keine Antwort darauf. Der | |
| Staatspräsident bezeichnet die protestierenden jungen Menschen als | |
| „ausländische Söldner“, die für eine Handvoll Dollar über ihren Staat | |
| herfielen. Die Rufmordmaschinerie der gleichgeschalteten Medien läuft auf | |
| Hochtouren. | |
| Tijana lächelt nur über die absurden Beschuldigungen. „Ich bin mir immer | |
| noch nicht sicher, ob unsere Blockaden das System verändern können, aber | |
| sie haben das Potenzial dazu, falls wir den Druck fortsetzen und sich die | |
| Verwaltungen der Fakultäten letztendlich hinter ihre Studenten stellen“, | |
| sagt sie. | |
| Die vermeintlich so stabile serbische Autokratie, die den Status eines | |
| EU-Beitrittskandidaten hat, gerät plötzlich ins Wanken, weil sich die als | |
| unpolitisch abgeschriebenen jungen Menschen lauthals zu Wort gemeldet | |
| haben. | |
| Dabei war für den serbischen Autokraten Aleksandar Vučić zwölf Jahre alles | |
| gut gelaufen. Zuerst als Regierungschef und dann als Staatschef stellte er | |
| sich über alle und alles. Schritt für Schritt zertrampelte er Verfassung | |
| und Gesetze, nahm staatliche Institutionen und Medien unter seine Kontrolle | |
| und versuchte die Zivilgesellschaft zum Schweigen zu bringen. | |
| ## Scheinbar unantastbar | |
| Mit Leichtigkeit spielte er über ein Jahrzehnt lang die zerstrittene | |
| Opposition an die Wand. Sporadische, zum Teil auch massive Bürgerproteste, | |
| neutralisierte er mit nur geringer Gewaltanwendung. [2][Vučić schien | |
| unantasbar]. | |
| Doch dann brach am 1. November das Vordach des Bahnhofs in Novi Sad, der | |
| Hauptstadt der Provinz Vojvodina, ein, 15 Menschen starben. Dem Schock | |
| folgte die Trauer und der Trauer die Wut vieler Bürger. | |
| „Das ist kein Unglücksfall. Das ist Mord!“, sagte Marinka Tepić, | |
| Parlamentsabgeordnete der Oppositionspartei „Freiheit und Gerechtigkeit“. | |
| Ähnlich klingt das auch bei anderen Oppositionspolitikern. | |
| Bojan Pajtić, Rechtswissenschaftler in Novi Sad und Ex-Regierungschef der | |
| Vojvodina, sieht die Ursachen der Tragödie in „Inkompetenz und endemischer | |
| Korruption“. Zwei Minister traten nach dem Unglück zurück, dreizehn | |
| Menschen wurden wegen des Verdachts auf Fahrlässigkeit festgenommen. Doch | |
| das reichte nicht aus. | |
| ## Landesweiter Kampfruf | |
| Der Slogan „Ihr habt Blut an den Händen“ erschallt wie ein Kampfruf im | |
| ganzen Land, das Symbol einer blutigen Hand ist das neue Banner der | |
| Opposition, die die Proteste gegen das „korrupte“ Regime organisiert. | |
| Die Opposition ruft die Bürger zur Aktion unter dem Motto „15 Minuten für | |
| 15 Opfer“ auf – der Verkehr wird dabei angehalten. Diese Aktionen störten | |
| Provokateure, die als Funktionäre der Regierenden Serbischen | |
| Fortschrittspartei (SNS) identifiziert wurden. | |
| Doch dann wurden bei einer dieser Protest- und Gedenkmanifestationen | |
| Studenten der Film- und Theaterfakultät in Belgrad (FDU) verprügelt, die | |
| Gewalttäter waren ebenfalls bekannte Mitglieder der SNS. Die Studenten | |
| hatten die Nase voll, blockierten ihre Fakultät und forderten, dass die | |
| Angreifer festgenommen würden. | |
| Studenten anderer Fakultäten folgten dem Beispiel und stellten zwei | |
| zusätzliche Bedingungen: Die bei Protesten verhafteten Bürger müssten | |
| freigelassen sowie alle geheimgehaltenen Bauprojekte des Bahnhofs in Novi | |
| Sad öffentlich gemacht werden.„Blockaden sind derzeit das einzige Mittel, | |
| um die Aufmerksamkeit der Machthaber auf die Forderungen der Studenten zu | |
| lenken“, sagt Tijana. | |
| ## Flamme des Aufstands | |
| Die Situation erinnert an die Studentenproteste in Serbien 1996/1997, die | |
| zum Sturz von Slobodan Milošević geführt hatten. Ein autoritäres Regime | |
| kann nicht nachgeben, doch es ist sehr schwer, junge Menschen zu beruhigen, | |
| wenn die Flamme des Aufstands gegen Ungerechtigkeit lodert. | |
| Über 1.000 Professoren und Wissenschaftler haben mittlerweile eine Petition | |
| unterzeichnet, die die Studenten unterstützt. Schauspieler des serbischen | |
| Nationaltheaters stellten sich genauso hinter ihre jungen Kollegen von der | |
| Akademie wie Lehrer und Landwirte, die parallel dazu soziale Proteste | |
| organisieren. | |
| Mittlerweile hat sich auch das Rektorat der Universität Belgrad mit den | |
| Studierenden solidarisch erklärt. Zum ersten Mal, seit er die Macht | |
| ergriffen hat, scheint der Herrscher über Serbien, Aleksandar Vučić, ratlos | |
| zu sein. | |
| Anm. der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es, dass eine | |
| Dachrinne des Bahnhofs eingestürzt sei. Tatsächlich ist das Vordach | |
| eingestürzt. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen. | |
| 11 Dec 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Andrej Ivanji | |
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