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# taz.de -- Serbische Wahlen: Mit Rückendeckung der EU
> Blind setzten die deutsche und europäische Politik ihre Hoffnung auf
> Vučić. Sein Wahlsieg in Serbien rückt Veränderung einmal mehr in die
> Ferne.
Bild: Oppositionelle am Wahlabend in Belgrad
Es ist bedrückend, in Serbien zu leben, für den, der an die
Rechtsstaatlichkeit glaubt, an Medien- und Meinungsfreiheit,
Arbeiterrechte, an den Sozialstaat, die Bedeutung der zivilen Gesellschaft
und öffentlicher Debatten, an unabhängige staatliche Institutionen oder
faire Wahlen. Es ist beengend, in Serbien zu leben, für den, der den
Personenkult verabscheut und die Geschichtsfälschung.
Und es ist nahezu hoffnungslos, in Serbien zu leben, denn die besseren
Zeiten wollen einfach nicht kommen – trotz der geografischen [1][Nähe zur
Europäischen Union] und ungeachtet aller schönen Reden Brüsseler
Bürokraten. Serbien ist nur auf dem Papier ein EU-Beitrittskandidat.
Serbien ist eine leere Schale der parlamentarischen Demokratie und ein
Mekka für endemische Korruption. Dieser Zustand dauert seit Jahrzehnten.
Kein Wunder, dass die meisten Serben an Veränderungen nicht mehr glauben.
Die „Superwahlen“ am 17. Dezember bestätigen diese bitteren Zustände.
Gewählt wurden das serbische und das Parlament der Provinz Vojvodina,
lokale Behörden in Belgrad und weiteren 64 Städten. Das Ergebnis erinnert
an den Titel eines Buches von Lenin: „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte
zurück“. Nicht nur weil der serbische Autokrat in der Rolle des
Staatspräsidenten, Aleksandar Vučić, überlegen auf allen Ebenen gewann,
sondern wie ihm dieses Meisterstück gelungen ist.
Da können sich seine Kollegen Putin, Erdoğan, Orban und Alijew eine Scheibe
abschneiden. Sie alle haben ihm auch sofort zu dem glänzenden Sieg
gratuliert. Dementgegen blieben die üblichen Glückswünsche aus westlichen
Demokratien diesmal aus. Das [2][Auswärtige Amt in Berlin schrieb sogar auf
X]: „Serbien hat gewählt, aber die OSZE-ODIHR berichtet von Missbrauch
öffentlicher Mittel, der Einschüchterung von Wählern und Fällen von
Stimmenkauf. Das ist für ein Land mit EU-Kandidatenstatus inakzeptabel.“
Wenigstens das.
## Ein Ziehkind Merkels
Vučić, ein politisches Ziehkind von Exkanzlerin Merkel, ist seit fast zwölf
Jahren an der Macht. Merkel glaubte, äußerst naiv und trotz aller
Warnungen, an seinen guten Willen, Serbien allmählich den europäischen
Standards anzupassen. Sie war nicht die Einzige. Die
Konrad-Adenauer-Stiftung tat ihr Bestes und gab viel Geld deutscher
Steuerzahler aus, um die Ex-Nationalisten, Ex-Kriegshetzer und Verehrer
[3][Ratko Mladićs], der für die Gräueltaten in Srebrenica verantwortlich
war, salonfähig zu machen.
Vučić setzte dennoch Geschichtsleugnung und zielstrebige nationalistische
Attacken auf Nachbarvölker fort und vergiftet seit einem Jahrzehnt die
Stimmung in der postjugoslawischen Region. Als die FAZ seine
Regionalpolitik mit der Ostpolitik Willy Brandts verglich, muss sich so
mancher Bürger Serbiens ungläubig an die Stirn gegriffen haben. Weder
Deutschland noch die EU können für die serbische bürgerliche Opposition den
Kampf für zivilisatorische Umstände in Serbien ausfechten.
Aber dieses jahrelange Schulterklopfen Vučićs vor laufenden Kameras trug
dazu bei, dass immer weniger Serben an die EU glaubten. Nur knapp 30
Prozent der Serben betrachten die Annäherung an die EU immer noch als eine
außenpolitische Priorität. Mit sinkendem Vertrauen in die EU sank auch ihr
Einfluss auf die serbische Politik.
Vučićs Wähler sind ohnehin prorussisch veranlagt, sie verehren Wladimir
Putin, sie klatschen laut Beifall, weil sich ihr alles bestimmender
Präsident immer noch weigert, gegen Russland infolge des Überfalls auf die
Ukraine Sanktionen zu verhängen. Und die prowestlich orientierten
serbischen Bürger trieb der Westen mit seiner Pro-Vučić-Politik immer
weiter von sich. So ist es wenig verwunderlich, dass die EU nicht die
geringste Rolle in den jüngsten Wahlkämpfen spielte.
## Nicht gerade faire Wahlen
Während europäische und amerikanische Beamte und Politiker jahrelang Vučićs
Spielchen duldeten – stets in der Hoffnung, er werde den Kosovo-Knoten
lösen –, verwandelte sich Serbien in eine „hybride Demokratie“, wie es d…
amerikanische NGO [4][Freedom House] definierte. Das heißt, formal finden
zwar Wahlen statt, aber [5][frei und fair sind sie bei Weitem nicht].
Das sah man auch in der jüngsten Wahlkampagne: Der Staatspräsident führte
die Kampagne für eine Wahlliste mit seinem Namen auf allen Ebenen an,
obwohl er selbst für kein einziges Amt kandidierte. Er und seine politische
Gefolgschaft beherrschten 80 Prozent der Informationsprogramme im
Fernsehen; für Parteizwecke wurden alle staatlichen Ressourcen missbraucht.
Und weil das alles in Belgrad noch nicht reichte, wurden offenbar
Zehntausende Bürger aus der serbischen Entität in Bosnien für die Wahlen
„importiert“.
Man stellte ihnen kurzerhand Personalausweise mit Belgrader Adresse aus,
damit sie dort wählen können. Die Opposition bezichtigt Vučić des „massiv…
Wahlbetrugs“, die serbische Organisation Crta, die die Wahlen beobachtete,
verkündete, dass in Belgrad die Wahlmanipulation solche Ausmaße angenommen
habe, dass sie maßgebend die Ergebnisse beeinflusste.
Doch wenn die regierende Partei Wahlkommissionen und die Staatsanwaltschaft
kontrolliert, nutzen alle Klagen und Einwände nichts. Aus reiner
Machtlosigkeit ist eine Anführerin des prowestlichen Bündnisses „Serbien
gegen Gewalt“, Marinika Tepić, [6][am Montag in den Hungerstreik] getreten.
Die Opposition fordert Neuwahlen in Belgrad. „Wir wussten, dass sie stehlen
werden, aber wir konnten nicht ahnen, dass sie so gewaltig stehlen würden“,
kommentierte ein Oppositionspolitiker die Wahlen.
Bisher ist Vučić noch immer alles durchgegangen, warum nicht auch das. Wenn
jemand immer wieder ungeschoren davonkommt, glaubt er mit der Zeit, sich
immer mehr leisten zu können. Das ist menschlich und gilt auch für
Autokraten. Nur eine dünne Linie trennt eine Autokratie von einer Diktatur.
Die ewigen Ermunterungen aus Brüssel, die die „europäische Perspektive“
Serbiens unterstreichen, liegen wirklich daneben.
21 Dec 2023
## LINKS
[1] /EU-und-der-Westbalkan/!5971906
[2] https://twitter.com/AuswaertigesAmt/status/1736839530655699376
[3] /Urteil-gegen-Ratko-Mladic/!5773317
[4] https://freedomhouse.org/country/serbia
[5] /Wahlen-in-Serbien/!5980221
[6] /Nach-den-Wahlen-in-Serbien/!5977948
## AUTOREN
Andrej Ivanji
## TAGS
Serbien
Aleksandar Vucic
Europäische Union
Schwerpunkt Korruption
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