# taz.de -- Irans Raketenangriff auf Israel: „Sie nutzen uns als Schutzschild… | |
> Die Kleriker riskieren nicht nur den Verlust ihrer Macht, sondern auch | |
> einen Krieg mit den USA. Die Menschen im Iran hoffen, dass es nicht noch | |
> schlimmer kommt. | |
Bild: Ali Khamenei ist der Revolutionsführer und die oberste Macht im Iran | |
Berlin taz | Sie und ihre Freund:innen hätten die ganze Nacht zu Mittwoch | |
nicht geschlafen, erzählt Pegah Nafisi (Name geändert). Gebannt hätten sie | |
die Nachrichten verfolgt, nachdem klar geworden war, dass Irans Regime | |
Israel mit Raketen angegriffen hat, erzählt die 33-jährige Lehrerin aus | |
Teheran am Tag danach. | |
„Das Regime hat gestern Abend nicht einmal Passagierflüge gecancelt“, | |
erzählt Nafisi. Tatsächlich kursieren in den Sozialen Medien Videos mit | |
fliegende Raketen. Die Aufnahmen wurden allem Anschein nach von Menschen | |
gemacht, die im iranischen Luftraum in Passagierflugzeugen sitzen. Erst | |
zwei Stunden nach den Raketenabschüssen hätte Irans Führung den Luftraum | |
sperren lassen. „Sie benutzen uns als Schutzschilde“, glaubt die | |
33-Jährige. | |
Klar ist jedenfalls: Um Menschenleben schert sich das iranische Regime | |
nicht. Weder im Iran, noch in Israel, in Gaza oder im Libanon. Die | |
Machthaber in Teheran haben nur eine Prämisse: Die eigene Macht zu | |
erhalten. Danach wird eigentlich jede politische Entscheidung getroffen. | |
Doch angesichts dieser Prämisse verwundert der Raketenangriff auf Israel, | |
den das iranische Regime am Dienstagabend anordnete. Mehr als 180 | |
ballistische Raketen ließen die Machthaber in Teheran auf Israel schießen. | |
[1][Es war der zweite direkte Angriff von iranischem auf israelischen | |
Boden]. | |
## Irans Regime könnte die Kontrolle entgleiten | |
Anders als beim ersten Angriff im April gab es Dienstagabend keine | |
Vorwarnung. Gegen 19.30 Uhr ertönten in Israel die Sirenen; Menschen | |
flüchteten sich landesweit in Bunker. Israels Abwehrsysteme konnten die | |
Angriffe größtenteils unschädlich machen. Auch die USA halfen dabei. | |
Berichten zufolge soll ein Mann in Jericho im Westjordanland durch | |
herabfallende Raketenteile getötet worden sein. | |
Verwunderlich sind diese Angriffe, weil Irans Regime nun sehr leicht die | |
Kontrolle über die Situation entgleiten könnte. Der Angriff im April war | |
für Teheran in erster Linie eine Machtdemonstration, mit der die Führung, | |
so scheint es, keinen großen Schaden anrichten wollte. Auch Israel ließ es | |
dabei beruhen, flankiert von Warnungen der USA, dass der Konflikt sich | |
nicht ausweiten dürfe. Das ist jetzt anders. | |
Israels Premier Benjamin Netanjahu erklärte, dass der Iran einen „großen | |
Fehler“ begangen habe und „dafür bezahlen“ werde. Jake Sullivan, der | |
Nationale Sicherheitsberater der US-Regierung, sagte, es werde | |
„schwerwiegende Konsequenzen“ für den Iran geben. „Wir werden mit Israel | |
zusammenarbeiten und dafür sorgen“. | |
Schwer zu sagen, ob das iranische Regime damit gerechnet hat, dass die USA | |
sich trotz der Gefahr einer direkten militärischen Konfrontation so | |
eindeutig hinter Israel stellen. Irans Machthaber mögen über eine der | |
stärksten Streitkräfte der Region verfügen – gegen eine vereinte Front aus | |
Israel und den USA können sie kaum gewinnen. Damit wäre die Macht der | |
iranischen Kleriker erstmals seit Bestehen der Islamischen Republik | |
ernsthaft gefährdet. | |
## Kein Vertrauen in Khameniei wie Netanjahu | |
„Es gibt Menschen, die wünschen sich, dass Israel Khamenei tötet“, sagt | |
Nafisi. Ali Khamenei ist der Revolutionsführer und die oberste Macht im | |
Iran. Er führt die Revolutionsgarden, die Menschen im In- und Ausland | |
terrorisieren. „Aber es gibt auch viele, die zwar nicht hinter dem Regime | |
stehen, aber auch Netanjahu nicht trauen.“ Der Gaza-Krieg und die | |
israelische Kriegsführung hätten bei vielen Menschen im Iran ein Misstrauen | |
gegenüber der israelischen Regierung hinterlassen. | |
Grundsätzlich fühlen sich viele Menschen im Iran Israel verbunden, allein | |
aus Gegnerschaft zur eigenen Führung. Das letzte Jahr habe aber einiges | |
verändert, berichtet Nafisi. Und trotzdem sagt sie: „Ich hoffe, dass sie | |
Khamenei terrorisieren.“ Mit „sie“ meint sie die israelische Regierung. | |
Ein Grund für den riskanten Schritt des iranischen Regimes könnten | |
Friktionen innerhalb des Machtapparates sein. Das deutschsprachige | |
Exil-Medium IranJournal zitiert einen iranischen Experten, der von einem | |
„inneren Machtkampf“ spricht. So könnten sich rein ideologisch gesinnte | |
Positionen gegenüber den – aus Sicht des Regimes – mehr rational handelnden | |
Kräften durchgesetzt haben. | |
Bisher hat sich das Regime in einer einigermaßen komfortablen Lage | |
befunden. Die von ihm aufgebaute sogenannte „Achse des Widerstands“, unter | |
anderem bestehend aus Hamas und Hisbollah, hat seit dem 7. Oktober den | |
Kampf gegen Israel geführt, auch im Namen der Islamischen Republik Iran. | |
## Teheran droht mit Angriffen „höherer Souveränität“ | |
Sowohl die Hamas als auch die Hisbollah sind durch israelische | |
Militärschläge inzwischen beträchtlich geschwächt. Das bedeutet, dass das | |
iranische Regime seinen Kampf gegen Israel nun selbst an vorderster Front | |
führen muss. Da die Machthaber in Teheran sich propagandistisch stets als | |
Verteidiger der palästinensischen Sache dargestellt haben, müssen sie nun | |
auch liefern. Das könnten die Beweggründe für den jüngsten Angriff gewesen | |
sein. Damit könnten sie sich aber verkalkuliert haben. | |
Für den Fall, dass Israel jetzt als Reaktion Irans Ölproduktionsstellen | |
oder Atomanlagen angreifen sollte, hat das Regime schon angekündigt, erneut | |
zurückzuschlagen. Ein hochrangiger Offizier sagte im iranischen | |
Staatsfernsehen, man werde mit Angriffen noch „höherer Intensität“ | |
antworten. | |
„Ich wünsche mir, dass Khamenei verschwindet, damit jemand kommt, der für | |
Frieden steht“, sagt Lehrerin Nafisi. Man kommt nicht umhin, pessimistisch | |
in die Zukunft zu blicken. Denn die Region scheint sich der Maxime „Auge um | |
Auge, Zahn um Zahn“ treu zu bleiben. Dass dieser Weg in den Frieden führt, | |
erscheint unwahrscheinlich. So bleibt nur zu hoffen, dass alles nicht noch | |
schlimmer wird. | |
2 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Gilda Sahebi | |
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