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# taz.de -- Pro-Life-Bewegung: Nach rechts offen
> Die Zustimmung für die Abtreibungsgegner*innen in Deutschland nimmt
> ab. Doch das macht die Bewegung nicht weniger gefährlich.
Bild: Gegendemonstrantin zeigt eine Schmuckstück in Form eines Uterus
Jedes Jahr im September protestieren Abtreibungsgegner*innen weltweit
beim [1][„Marsch für das Leben“]. Doch die Veranstaltungen der deutschen
„Lebensschutzbewegung“ verlieren Teilnehmende, wie bei ihrer diesjährigen
Demonstration in Berlin zu sehen war. Aus dem Schweigemarsch, der mit
Holzkreuzen Trauer über die „ungeborenen Kinder“ ausdrücken sollte, wollte
der veranstaltende „Bundesverband Lebensrecht“ (BVL) eine Demonstration für
die Freude am Leben machen.
Aber Jugendliche in die erste Reihe zu stellen und Popmusik zu spielen,
reicht dafür nicht aus. Dass die Bewegung an Zuspruch verliert, macht sie
jedoch nicht harmloser. Stattdessen nähert man sich dem rechtsextremen
Milieu an.
Der Bundesverband, der die Märsche sorgfältig orchestriert, die Parolen
ausgibt und sehr darauf achtet, ob selbst gemalte Schilder zur politischen
Linie passen, hatte lange darauf bestanden, überkonfessionell und politisch
unparteiisch zu sein.
Jahr um Jahr betonten die Veranstaltenden, dass sie nicht verhindern
könnten, dass extreme Rechte wie Burschenschaftler, Nazis, Identitäre und
AfDler an den Märschen teilnähmen. Stattdessen distanzieren sie sich
lediglich von ihren Inhalten und bemühten sich um die Unterstützung der
Amtskirchen, die sich sehr deutlich von der AfD abgrenzen.
## AfD-Politikerin statt Kirchenvertreter
In diesem Jahr schien das alles keine Rolle mehr zu spielen. Zwar liefen
wieder einige Bischöfe mit und der Botschafter des Vatikans schickte ein
Grußwort. Die Bewegung scheint darüber hinaus [2][keine Anstrengungen
unternommen] zu haben, die für die Bewegung eigentlich wichtige
Unterstützungserklärungen hochrangiger Kirchenvertreter zu organisieren.
Stattdessen lief Beatrix von Storch, die stellvertretende Vorsitzende der
AfD im Bundestag, ganz vorne mit. In einer [3][Pressemitteilung] vor dem
Marsch beschuldigte von Storch die Regierung, „den Lebensschutz
verfassungswidrig auszuhebeln“ und eine „Quasi-Aufforderung“ auszuspreche…
„ungeborenes Leben zu töten“.
In den ersten Reihen der Demonstration hatte man sie seit 2015 nicht mehr
gesehen. Von Storch hatte in den Jahren danach zwar häufig an der
Auftaktkundgebung teilgenommen, demonstrierte aber nicht vorne mit. Das war
vermutlich dem Bestreben der Bewegung geschuldet, als gemäßigt und
bürgerlich-konservativ zu gelten.
Mit Pablo Munoz Iturrieta sprach in Berlin als erster Redner ein
„Kulturkämpfer“, der verkündete, man sei die schweigende Mehrheit, die �…
Kampf gegen die Kultur des Todes“ gewinne. Die Bewegung hätte erreicht,
dass Abbrüche in Deutschland illegal seien. Nächstes Jahr würde eine
Million Abtreibungsgegner durch Berlin ziehen. Das könnte fast ein bisschen
lächerlich sein, angesichts der abnehmenden Teilnehmendenzahlen, wäre der
Kulturkampf gegen die „Kultur des Todes“ nicht eine Chiffre für ein
autoritäres, fundamentalistisches Weltbild.
## Leben im Sinne Gottes
Die Gegner*innen werden als Anhänger einer „Kultur des Todes“
gebrandmarkt, die nicht Gott, sondern dem Teufel folgen. So werden alle als
Böse abstempelt, die ihr Leben nicht von einem 2.000 Jahre alten Buch
bestimmen lassen wollen, die Sex nicht nur zur Reproduktion haben,
Linksliberale, Feminist*innen, Antifa, trans Menschen, Lesben, oder wie
Iturrietta in einem auf Youtube zu findenden Vortrag etwas freizügiger
formuliert: „Perverse“.
Die dem entgegengesetzte „Kultur des Lebens“ ist, trotz des Namens, nicht
menschenfreundlich, sondern meint, sein Leben in die Hand Gottes zu legen.
In den USA sind bereits mindestens zwei Frauen an den Folgen der in einigen
Bundesstaaten seit dem Fall von Roe vs Wade geltenden restriktiven
Abtreibungsgesetze gestorben, da ihnen nicht schnell genug geholfen wurde.
Und auch im Nachbarland Polen sterben jedes Jahr mehrere Frauen, denen ein
Abbruch verweigert wird.
Dabei erlaubt Polens extrem restriktives Abtreibungsgesetz Abbrüche sogar,
wenn das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren in Gefahr ist.
Ärzt*innen befürchten in dem aufgeheizten Klima berechtigterweise
Strafverfolgung und verweigern Hilfe. Erst im Juli hatte das Parlament mit
knapper Mehrheit gegen eine Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes
gestimmt.
Die Auftaktrede von Iturrieta beim Berliner Marsch hat erneut gezeigt, wie
wichtig eine Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen wäre.
Idealerweise würde noch in dieser Legislaturperiode der
Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden.
## Verschärfte Gesetze sind unwahrscheinlich
Die von der Regierung eingesetzte Expert*innenkommission hat die
rechtlichen Grundlagen dafür gelegt. Aber das wird wohl nicht passieren,
nicht nur, weil die FDP bremst, sondern auch, weil sowohl die SPD wie die
Grünen dieses anspruchsvolle Projekt nicht mehr ein Jahr vor der
Bundestagswahl angehen wollen.
Dieses Zeitproblem war jedoch bereits offensichtlich, als die Kommission
eingesetzt wurde, daher liegt die Vermutung nahe, dass die selbsternannte
Fortschrittskoalition nie vorhatte, das Problem tatsächlich zu lösen,
sondern mit der Kommission eine Hinhaltetaktik fuhr, die sie
fortschrittlich aussehen lässt.
Ein Lichtblick ist, dass das Verbot von Gehsteigbelästigungen durch
Abtreibungsgegner*innen vor Beratungsstellen und Arztpraxen
voranschreitet. Der Bundesrat hat es Ende September verabschiedet, sodass
es bis zum Inkrafttreten des Gesetzes nicht mehr lange dauern kann.
Nichtsdestotrotz will die Kampagne „Abtreibung legalisieren – jetzt!“
aktuell noch mal Druck aufbauen, um die Gelegenheit einer halbwegs linken
Koalition nicht ungenutzt vergehen zu lassen. Das Bündnis aus
feministischen und gesundheitspolitischen Initiativen ruft dazu auf,
Abgeordneten und dem Bundeskanzler zu schreiben. Außerdem soll es Anfang
Dezember Demonstrationen in Berlin und Karlsruhe geben.
12 Oct 2024
## LINKS
[1] /Marsch-fuer-das-Leben-und-Gegendemo/!6037939
[2] https://www.kirche-und-leben.de/artikel/marsch-fuer-das-leben-2024-deutsche…
[3] https://afdbundestag.de/beatrix-von-storch-nicole-hoechst-der-marsch-fuers-…
## AUTOREN
Kirsten Achtelik
## TAGS
Schwerpunkt „Marsch für das Leben“
Abtreibungsgegner
Paragraf 218
Schwerpunkt AfD
Rechtstextreme
GNS
Schwerpunkt Abtreibung
sexuelle Selbstbestimmung
Schwerpunkt Abtreibung
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