| # taz.de -- Universitäten in Russland: Propagieren geht über Studieren | |
| > Die Europäische Universität in Sankt Petersburg schließt ihre | |
| > Politologie-Fakultät. Eine freie Lehre ist in dem Land längst nicht mehr | |
| > möglich. | |
| Bild: Bereits 2017 demonstrierten Studierende für die Autonomie der Europäisc… | |
| MOSKAU taz | „Die Fakultät ist liquidiert, Erklärungen vonseiten der | |
| Universitätsleitung gibt es keine. Ich gehe nun in einen langanhaltenden | |
| Urlaub, am neuen Programm werde ich nicht mehr teilnehmen.“ So schreibt es | |
| Grigori Golossow, bis vor einigen Wochen noch Dekan der | |
| Politologie-Fakultät an der Europäischen Universität in Sankt Petersburg, | |
| Ende Juni [1][in seinem Facebook-Profil]. Die Politikwissenschaften sind | |
| nun Geschichte an seiner Universität – gewissermaßen in einem doppelten | |
| Sinne: Die, die weiterstudieren wollen, müssen es nun an der | |
| Geschichtsfakultät tun. Geschichte in Russland heißt aber, aus politischen | |
| Gründen, eine völlige Verzerrung von Wissenschaft und zumindest die | |
| Akzeptanz eines Geschichtskonzeptes, wie der „Oberhistoriker“ Wladimir | |
| Putin es sieht. | |
| Für viele Wissenschaftler*innen – nicht nur an der Europäischen | |
| Universität von Sankt Petersburg – ist das nicht hinnehmbar. Sie gehen. | |
| Mehr als 6000 Wissenschaftler*innen, so heißt es in inoffiziellen | |
| Statistiken, sollen das Land in den vergangenen zwei Jahren verlassen | |
| haben. Zurück bleiben die Loyalen. Die „Patriot*innen“, die Doktorarbeiten | |
| zu „Philosophie der Drohnen“ abnehmen, die Geld für die Front sammeln, die | |
| ihre Student*innen Verträge mit dem russischen Verteidigungsministerium | |
| unterschreiben lassen. Der Krieg in der Ukraine ist im akademischen Alltag | |
| Russlands mittlerweile zur Routine geworden. | |
| Die im November 1994 gegründete „Europäische“, wie Student*innen und | |
| Dozent*innen die kleine private Uni in Sankt Petersburg fast schon | |
| liebevoll nennen, war seit ihren Anfängen ein besonderer Flecken in der | |
| weitgehend staatlich dominierten Hochschullandschaft des Landes. Sie kennt | |
| Schikanen der Behörden, kennt politischen Druck. In ihrer knapp 30-jährigen | |
| Geschichte wurde sie bereits mehrmals geschlossen, verlor die | |
| Bildungslizenz, bekam sie wieder. Sie kämpfte um Fördergelder und lockte | |
| doch immer wieder kluge Köpfe, auch aus dem Ausland, in die Stadt. Nun will | |
| sie sich wieder retten, den „Arm amputieren, um den Körper zu erhalten“, | |
| sagen sie in Sankt Petersburg. Doch wie viel lässt sich in Zeiten des | |
| angesagten patriotischen Gehorsams von einer Einrichtung erhalten, die | |
| stets die „freie Forschung nach europäischem Vorbild“ hochgehalten hat? Wie | |
| viel Inhalt bleibt übrig, wenn nur noch die Hülle vorhanden ist? | |
| Vor dem Politologie-Dekan Golossow waren bereits namhafte | |
| Wissenschaftler*innen wie die Politologin Margarita Sawadskaja oder | |
| der Historiker Iwan Kurilla gegangen (worden). Die „Depolitisierung“ hatte | |
| bereits vor dem Krieg begonnen. Eine ganze Reihe von Forschungsthemen – wie | |
| zum Beispiel die Geschichte des Autoritarismus oder Wahlen in Russland – | |
| erschienen der russischen Führung seit Langem als „verdächtig“. Die | |
| Universität verlor Geldgeber wie Lehrende, vor allem nach Putins Ausrufung | |
| seiner „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine. Eine autonome | |
| Wissenschaft, zumal Geisteswissenschaften, seien in dieser Atmosphäre der | |
| Angst und Repressionen nicht mehr möglich, sagen viele, die mittlerweile an | |
| europäischen oder amerikanischen Universitäten unterrichten. | |
| ## Die „Bewaffnung“ der Unis | |
| In den Kommentaren unter Golossows digitalem Brief auf Facebook wird | |
| deutlich, dass sein Abgang nur noch eine Frage der Zeit war, dass es | |
| praktisch der Lauf der Dinge im heutigen Russland ist. Politische | |
| Wissenschaften, wie der Parteien-Spezialist sie seit mehr als 13 Jahren als | |
| Dekan in Petersburg gelehrt hatte, gibt es keine mehr. Immer mehr sind die | |
| russischen Universitäten dem Druck ausgesetzt, mehr den Krieg in der | |
| Ukraine zu normalisieren, ja ihn zu legitimieren, als wirklich zu lehren. | |
| „Universitäten werden längst zur Unterstützung der Kriegskampagne genötig… | |
| Sie heroisieren die Kämpfer der,Spezialoperation'. Loyalität zur Führung | |
| ist demnach wichtiger als die Qualität der Lehre. Man betreibt nun eine | |
| sogenannte, national orientierte Wissenschaft und nennt sie ‚echt‘“, sagt | |
| der Historiker Dmitri Dubrowski, den die russische Justiz seit April 2022 | |
| als „ausländischen Agenten“ brandmarkt. Mittlerweile lehrt der 54-Jährige | |
| an der Karls-Universität in Prag. | |
| Dubrowski nennt diese Transformation der russischen Hochschullandschaft | |
| „Weaponization“: In Jura sollen die Student*innen erklären, dass | |
| Russland bei seiner Zerstörung der Ukraine im Rahmen internationaler | |
| Verträge handele, in Politologie stelle sich die Unis an die Spitze des | |
| Antikolonialismus, in Linguistik kümmern sie sich um die Verkehrung der | |
| Sprache, die das Regime seit dem Angriff im Februar 2022 betreibe. „Die | |
| meisten Professoren fügen sich da ein“, so der Wissenschaftler. | |
| Im März 2022 hatte die russische „Union der Rektoren“ in einem offenen | |
| Brief ihre Unterstützung der „Spezialoperation“ erklärt. Das Ziel der | |
| Universitäten sei es, dem Staat zu dienen, jeder müsse sich um den | |
| Präsidenten vereinen, stand darin. Dubrowski hatte damals – mit Hunderten | |
| weiteren russischen Wissenschaftler*innen – einen Gegenbrief | |
| unterschrieben, der die Einstellung militärischer Handlungen gegen die | |
| Ukraine forderte. | |
| ## Für den Rest bleibt nur die Nische | |
| Mittlerweile hat das Wissenschaftsministerium ein Programm ins Leben | |
| gerufen, das „Unis für die Front“ heißt. Etwa 500 Hochschulen des Landes, | |
| so heißt es im Ministerium, machten da mit. Das heißt: Die Student*innen | |
| sammeln Geld [2][für die Front] und nun auch für die Geflüchteten in | |
| [3][Kursk], Belgorod oder Brjansk, sie flechten Tarnnetze, bauen Drohnen, | |
| schreiben Briefe an die Soldaten, nehmen an Agitationsveranstaltungen teil, | |
| sind im nationalistischen Studentenclub „Ich bin stolz“ aktiv, schicken | |
| Bücher in die besetzen Gebiete. | |
| Die Unis unterhalten Austauschprogramme mit Bildungseinrichtungen in | |
| Donezk, Luhansk und Mariupol und haben Quoten für Kinder der | |
| Kriegsteilnehmer*innen eingeführt. Für Kriegsrückkehrer*innen | |
| bieten sie auch IT- und Pädagogik-Kurse an, damit diese danach in die | |
| Schulen gehen und den Kindern vom Kampf gegen den Westen erzählen. Wie zu | |
| Sowjetzeiten gibt es an den Universitäten nicht nur | |
| Ideologie-Arbeiter*innen, sondern auch Vertreter*innen der | |
| Geheimdienste. | |
| Allen, die in der russischen Hochschullandschaft – trotz Selbstzensur und | |
| Denunziantentum – überleben wollen und nicht gehen können oder wollen, | |
| bleibt in dieser Atmosphäre nur das Verkriechen in völlige Nischenthemen. | |
| Auch das wie zu Sowjetzeiten. | |
| 3 Sep 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.facebook.com/grigorii.golosov/posts/pfbid02mWGiN66d2RhhW1cKgydV… | |
| [2] /Kaempfe-in-der-Ostukraine/!6025289 | |
| [3] /Russlands-Angriff-auf-die-Ukraine/!6030830 | |
| ## AUTOREN | |
| Inna Hartwich | |
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