| # taz.de -- Über das Zuspätkommen: Auf wundersame Weise | |
| > Ich stehe mit einer fremden Frau, der ich geholfen habe, auf der Straße. | |
| > Kurz denke ich an meinen Termin, den ich innerlich loslasse. Es ist zu | |
| > spät. | |
| Bild: Ein Stück des Weges zusammengehen | |
| Ich bin viel zu spät. Ich ärgere mich, dass ich zu spät komme, obwohl ich | |
| früh aufgestanden bin. Wie kam mir die Zeit abhanden? Während ich zu meinem | |
| Termin eile, sehe ich in der Ferne eine Frau am Boden sitzen. Es sieht | |
| seltsam aus, wie sie dort mitten auf dem Gehsteig hockt. Bettelt sie? | |
| Etwas an ihr ruft in mir einen Anflug von Ärger hervor. Ich spüre schon von | |
| Weitem eine Frequenz, dass ich mich zu ihr verhalten muss. Dass sie ein | |
| Hindernis sein wird auf meinem Weg, auf dem ich doch alles ausblenden muss, | |
| um irgendwie noch pünktlich zu kommen. Doch dann bin ich auf ihrer Höhe. | |
| Und dann ist es egal. Alles stoppt. Ich spüre, sie braucht Hilfe: | |
| „Geht es Ihnen gut?“, frage ich. | |
| Sie antwortet nicht. Eine Frau, die auch zur Arbeit gehen wollte. „Ich bin | |
| gefallen“, sagt sie langsam. „Habe ich was im Gesicht?“, fragt sie. | |
| „Ein wenig Blut am Kinn.“ | |
| „Ist es schlimm?“, fragt sie erschrocken. Sie scheint vor allem zu | |
| interessieren, ob etwas in ihrem Gesicht versehrt ist. | |
| „Nein, nein“, sage ich. Ich versuche beruhigend zu klingen. | |
| „Ich komm nicht mehr hoch“, sagt sie. | |
| „Soll ich Ihnen helfen?“. Sie nickt. Dann greife ich von hinten unter ihre | |
| Arme, ich spüre Schweiß unter ihren Achseln. Angstschweiß, denke ich, dann | |
| richte ich sie auf. Als sie steht, schwankt sie. Ich stütze sie. „Soll ich | |
| einen Krankenwagen rufen?“, frage ich. | |
| „Nein, nein“, sagt sie schnell. Ihre Wasserflasche liegt am Boden. Ich hebe | |
| sie auf. Sie trinkt ein paar Schlucke und schwankt immer noch dabei. Ich | |
| mache mir Sorgen und überlege, ob ich gegen ihren Willen einen Krankenwagen | |
| rufen soll. | |
| ## Sie fällt immer wieder um | |
| „Ich falle in letzter Zeit immer wieder um“, sagt sie dann. | |
| „Waren Sie deswegen beim Arzt?“, frage ich. | |
| „Ja, er meinte, das wäre nur Stress. Aber gestern ist es mir auch passiert. | |
| Einfach so, aus dem Nichts. Das ist kein Stress. Ich verliere das | |
| Gleichgewicht.“ | |
| „Vielleicht gehen Sie noch mal zu einem anderen Arzt?“ | |
| „Ja, das dachte ich auch.“ | |
| Ich spüre auf einmal etwas Schweres in mir, die Sorge, dass hinter ihrem | |
| Fallen etwas Ernstes liegen könnte. | |
| „Es geht schon“, sagt sie. Sie macht einen Schritt, doch es geht nicht. Die | |
| Frau schwankt. „Warten Sie noch einen Moment“, sage ich. | |
| Ich stehe mit ihr auf der Straße. Kurz denke ich an meinen Termin, den ich | |
| nun innerlich loslasse. Es ist zu spät. Doch was sind Minuten, Stunden | |
| gegen entscheidende Momente. | |
| „Ich möchte nach Hause“, sagt sie. „Soll ich Sie begleiten?“, frage ic… | |
| Die Frau zögert. Sie umgibt eine höfliche Distanz. Selbst in dieser | |
| Situation. Oder vielleicht gerade wegen dieser hilfsbedürftigen Lage. Sie | |
| wirkt wie ein Mensch, der vieles allein schafft oder sich vielleicht daran | |
| gewöhnt hat. | |
| Dann nickt sie: „Ich wohne ganz nah.“ | |
| ## Mit unsicheren Schritten in die Wohnung | |
| Langsam laufen wir ein paar Schritte. Als wir ihr Mehrfamilienhaus | |
| erreichen, schließt sie die schwere Haustür auf, modern, gut gesichert. | |
| Zusammen gehen wir bis zu ihrer Wohnungstür: „Schaffen Sie es wirklich?“ | |
| Sie nickt. | |
| Mit unsicherem Schritt geht sie in ihre Wohnung. Sie öffnet dabei die Tür | |
| nur einen Spalt, als wollte sie verhindern, dass ich mit hineingehe, dass | |
| ich weiter mit ihr in ihr Leben schreite. | |
| Doch dann blickt sie mich an. | |
| „Wie heißen Sie“, fragt sie, als würde sie damit den Vorfall für sich | |
| ordnen wollen. | |
| Ich sage meinen Vornamen. Sie nickt und lächelt. | |
| Dann zieht sie die Tür zu. | |
| Ich gehe aus dem fremden Haus, aber ich beeile mich nicht mehr. Als ich | |
| meinen Termin erreiche, sind auf wundersame Weise auch die anderen zu spät, | |
| mit denen ich verabredet war. Es ist, als hätte sich in der Zeit eine Lücke | |
| gebildet, in der ich die Frau aufheben sollte. | |
| 18 Aug 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Christa Pfafferott | |
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