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# taz.de -- Präsidentschaftswahlen in Iran: Die Qual der Wahl
> Vor der Stichwahl in Iran liegt der vermeintlich „moderate“ Kandidat
> vorne. Gleichzeitig ist die Wahlbeteiligung so niedrig wie nie zuvor.
Bild: Mehr Rechte für Frauen? Dafür wirbt der „Reformer“ Massud Peseschki…
Auf die Frage, ob sie bei der [1][Präsidentschaftswahl] ihre Stimme
abgegeben hat, lacht Sepideh Mohammadi (Name geändert). Anstatt zu
antworten, erzählt die 49-jährige Ärztin aus Schiras, dass sie jeden Tag
von 10 Uhr bis Mitternacht arbeitet, genauso wie ihr Mann, der auch Arzt
ist. Anders kommt das Ehepaar nicht über die Runden. Dann berichtet Sepideh
Mohammadi von ihren Zusammenstößen mit der sogenannten Sittenpolizei, die
durch das Land fährt und Frauen und Mädchen festnimmt, misshandelt und
einschüchtert. Sie trage ihr Kopftuch, erklärt die Internistin, und sei
kürzlich dennoch [2][von den Sittenwächtern] angehalten worden. Sie hatte
Glück und wurde nicht mitgenommen. Es kann aber jederzeit wieder passieren.
„Nein, ich habe meine Stimme nicht abgegeben“, sagt sie schließlich.
Aus der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am Freitag gingen zwei Männer
hervor, die am 5. Juli in der Stichwahl gegeneinander antreten werden:
Massud Peseschkian und Said Dschalili. Peseschkian erhielt 42,5 Prozent der
Stimmen, Dschalili besetzte mit 38,7 Prozent den zweiten Platz. Insgesamt
[3][waren vier Männer] angetreten. Peseschkian gilt als der einzige
vermeintliche „Reformer“ unter ihnen. Die Wahlbeteiligung lag laut
iranischen Behörden bei 40 Prozent.
Die Wahlbeteiligung ist für die Islamische Republik entscheidend: Seit der
Staatsgründung preisen die Machthaber eine hohe Beteiligung als Beweis für
die Unterstützung durch das Volk. Aus diesem Grund werden viele Menschen
dazu gezwungen, wählen zu gehen: Beamt:innen, Militärs, Polizei,
Unternehmer:innen, alle, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zum
iranischen Regime stehen. Zudem sollen viele Menschen für ihre Stimmen
bezahlt werden. Den Anschein einer Republik zu bewahren, in der Menschen
etwas zu bestimmen hätten, ist für Revolutionsführer Ali Chamenei zentral.
Chamenei bezeichnete die Wahl laut [4][Iran Journal] im Vorfeld als
„wichtigen politischen Test“. Aber selbst die offizielle Wahlbeteiligung
ist so niedrig wie nie zuvor bei einer Präsidentschaftswahl.
„Ich habe nicht gewählt und werde in meinem ganzen Leben nicht wählen,
solange die Islamische Republik existiert.“ Shirin Mansoori (Name geändert)
ist Lehrerin und lebt in Teheran. Viele ihrer Freund:innen wurden im Zuge
der [5][„Frau, Leben, Freiheit“-Proteste], die im September 2022 nach dem
Tod von Jina Mahsa Amini das System erschüttert hatten, festgenommen. Mehr
als 500 Menschen wurden auf den Straßen ermordet, Angehörige von Getöteten
inhaftiert und unter Druck gesetzt. Tausende wurden festgenommen, weil sie
für Freiheit und Gleichberechtigung demonstrierten. An einen „Reformer“ wie
Massud Peseschkian glaubt Shirin Mansoori nicht.
„Die meiste Gewalt ist in diesem Land immer unter den Reformern ausgeübt
worden“, sagt sie. Sie erinnert an die Aban-Proteste vom November 2019, als
innerhalb weniger Tage 1.500 Protestierende getötet wurden. „Damals war
Rohani Präsident.“ Rohani gilt wie Peseschkian als Reformer. „Peseschkian
kann schönreden, das ist alles“, so die 32-jährige Lehrerin.
Das kann er in der Tat: Der 69-jährige Arzt und ehemalige
Gesundheitsminister Peseschkian zog im Wahlkampf durch das Land und
präsentierte sich als moderater Kandidat. Er sprach sich für
Nuklearverhandlungen mit dem Westen aus und für mehr Freiheiten für Frauen.
Nach der Ermordung Jina Mahsa Aminis durch die Sittenpolizei hatte
Peseschkian das Vorgehen der Behörden kritisiert. All das sollte nicht
darüber hinwegtäuschen, dass Peseschkian ein strammer Anhänger des Systems
ist. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Mehr erklärte Peseschkian im
Wahlkampf, dass er mit seinen Forderungen den „allgemeinen Vorgaben“ des
Revolutionsführers folge. Moderat, so ist sich auch Shirin Mansoori sicher,
ist nur seine Sprache.
Dschalili ist ebenfalls ein loyaler Verfechter der Islamischen Republik.
Der 58-Jährige war Atom-Chefunterhändler Irans und ist gegen Konzessionen
gegenüber dem Westen. Er ist ein enger Vertrauter Ali Chameneis und gilt
als äußerst gewaltvoll. Dschalili soll sich stets für große Brutalität im
Umgang mit Oppositionellen aussprechen. „Er ist ein sehr beängstigender
Mensch, der weder sprechen noch zuhören kann“, sagt Shirin Mansoori. Sie
kennt einige Menschen in ihrer Umgebung, die zwar im ersten Wahlgang nicht
gewählt haben, aber nun doch überlegen, in der zweiten Runde ihre Stimme
abzugeben – nur um Dschalili zu verhindern. Mansoori gehört nicht zu ihnen.
Sie sieht es als Verrat an, sich an den Wahlen zu beteiligen.
Tatsächlich ist seit Protesten in den Jahren 2017 und 2018 einer der
beliebtesten Slogans bei Demonstrationen: „Reformer, Hardliner, das Spiel
ist vorbei“. Für viele macht es keinen Unterschied mehr, wer das Amt des
Präsidenten innehält. Sind sie früher wählen gegangen, um das Schlimmste zu
verhindern, so geht es für viele heute ohnehin nicht mehr schlimmer. Im
Jahr 2023 wurden mehr als 800 Menschen hingerichtet, so viele wie seit
Jahren nicht mehr. In den Gefängnissen wird gefoltert, sexualisierte Gewalt
ist Alltag. Die wirtschaftliche Lage ist wegen der Korruption und der
katastrophalen Innen- und Außenpolitik des Regimes verheerend. Viele gut
ausgebildete junge Menschen wollen das Land so schnell wie möglich
verlassen.
Ohnehin liegt die Macht in der Islamischen Republik in Händen des
Revolutionsführers Ali Chamenei und seiner Gefolgsleute. Sie sind es, die
bestimmen, was im Land passiert. Sie bestimmen, welche Freiheiten gewährt
werden, welche nicht, sie bestimmen die Politik. Sie bestimmen alles. Wer
unter ihnen Präsident ist, ist nicht entscheidend. Es ist möglich, dass
Dschalili die Stimmen der ausgeschiedenen Kandidaten auf sich vereint und
gewinnt. Vielleicht wird auch Peseschkian der Sieger sein. Eines ist
sicher: Der Graben zwischen Bevölkerung und Führung ist unüberbrückbar
geworden.
Die Ärztin Sepideh Mohammadi und ihr Mann entschieden sich vor zwei Jahren
schweren Herzens, ihr einziges Kind zum Studieren ins Ausland zu schicken.
Die Tochter solle nicht in einem Land wie der Islamischen Republik
aufwachsen, so die Mutter. „Ich will, dass sie leben kann.“
30 Jun 2024
## LINKS
[1] /Praesidentschaftswahl-in-Iran/!6020436
[2] /Iran-kontrolliert-wieder-Kleidungszwang/!5944942
[3] /Praesidentschaftswahl-in-Iran/!6018823
[4] https://www.journal21.ch/artikel/die-zukunft-des-iran
[5] /Autorinnen-ueber-Protest-in-Iran/!5910501
## AUTOREN
Gilda Sahebi
## TAGS
Schwerpunkt Iran
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