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# taz.de -- Michael Cullen wird 85: Gebaute Demokratie
> Der Architekturhistoriker Michael Cullen hat sich für die gläserne Kuppel
> und die Verhüllung am Reichstag stark gemacht. Nun feiert er Geburtstag.
Bild: Michael Cullen bei der Verleihung des Henry-Kissinger-Preises in der Amer…
Berlin taz | Kuppel ist nicht Kuppel. Aber jede Kuppel ist ein politisches
Signal. Erzählt [1][Michael Cullen] beim geliebten italienischen Essen, der
aus Brooklyn stammende Berliner Architekturhistoriker, weit ausschweifend
und schöpfend aus der Fülle eines immensen bau- und kulturhistorischen
Wissens. Den Erbauern der Kuppel des Berliner Schlossfassadennachbaus wird
etwa mit aller Leidenschaft vorgeworfen, rechtsreaktionär und evangelikal
den öffentlichen Raum beanspruchen zu wollen.
Mag sein, mag nicht sein. Norman Fosters gläserne Kuppel des Reichstags
jedenfalls gilt sicherlich als Musterbeispiel einer modernen,
demokratischen Symbolarchitektur. Sie ist auch Cullens Kind. Er machte dem
Bundestag in den 1990ern klar: Eine Kuppel kann sein, wenn es um
Machtarchitekturen geht. Aber sie muss nicht steinern werden. Jede Zeit hat
ihre Kuppel.
Vor fast genau 60 Jahren kam Cullen nach West-Berlin. Philosophie,
Geschichte und russische Philologie hatte er in New York studiert, als
Übersetzer gearbeitet, 1962 beim amerikanischen Radio Free Europe in
München volontiert, dann kurz an der Columbia-University studiert, Englisch
in Hannover gelehrt. Aber West-Berlin zog ihn an, die damals wohl, erzählt
er, ziemlich morbide und zugleich extrem lebendige Stadt, die unter dem
wortgewaltigen Willy Brandt zum Testgelände für alle denkbaren Avantgarden
wurde. Einer der Helden Cullens.
Sofort nach seiner Ankunft 1964, die Mietpreise waren kaum relevant,
eröffnete er die Galerie Mikro im Wedding. Avantgardekunst mitten im
verrottenden Arbeiterviertel – ein typisch New Yorker Konzept. Gemälde und
Skulpturen etwa von Gerd Winner, Mario Cravo, Lesungen mit dem schon
berühmten W. H. Auden oder Günter Grass, der zur gleichen Zeit in Friedenau
lebte. Ein Jahr voller Aufregung, dann musste Michael ins Militär, kam aber
schon 1967 zurück nach West-Berlin, gründete die Galerie in Charlottenburg
neu – Grützke, Wewerka, Paolozzi, Roth, 1968 zum ersten Mal in Berlin
überhaupt David Hockney.
Die großbürgerliche Wohnung, in der er bis heute lebt, hat viel gesehen.
Und sie wurde zum Archiv und zu einer die Wände bis unters Gesims füllenden
Handbibliothek über Kunst, Berlin, Politik, Geschichte, Parlamentarismus.
Drei Riesenschreibtische, unter Papierstapeln verschwindende Ablagetische,
Zeitungsausschnitten und Aktenschränke. Hier lernte auch der Autor dieser
Zeilen: Parlamentsprotokolle sind Dramen, in denen es um das realste geht,
was politisch zu verhandeln ist: Das Leben.
## Eine Postkarte an Christo
Irgendwann um 1970 begann nämlich Cullens Leidenschaft für den Riesenbau am
Platz der Republik, dessen Wiederaufbau nach den spätmodernistisch-trocknen
Plänen Paul Baumgartens gerade abgeschlossen war. 1971 schickte er an
[2][Christo und Jeanne-Claude] in New York eine Postkarte mit dem Reichstag
ohne Kuppel: „Ich schlage vor, dass Sie das umseitige Gebäude verhüllen.“
Die beiden hatten gerade mal wieder für Skandal und Aufsehen gesorgt, mit
einem 400 Meter langen und bis zu 111 Meter hohen Vorhang aus strahlend
orangenen Folien, der ein Tal in den Rocky Mountains teilte. Die Folie
zerriss umgehend im Wind, nur ein Foto konnte entstehen. Und in New York
wurde eine Postkarte gelesen. Michael hatte seine Lebensaufgabe gefunden.
Es dauerte mehr als zwanzig Jahre, bis der Reichstag hinter silbernen
Folien verschwand und nach zwei Wochen wie neugeboren wieder erschien,
bereit, nicht mehr nur Denkmal der zerstörten Weimarer Republik, des
verlorenen Kriegs, der Befreiung zu sein, sondern als Haus der neuen
Bundesrepublik zu dienen. Politische Kunst wie aus dem Handbuch, die zeigt:
Auch die Demokratie ist des Großen fähig. Nicht, dass er sich nur dieser
Aufgabe widmete, in der Neuen Nationalgalerie entstand ein Cafe, er
forschte zur deutsch-jüdischen Geschichte, zum Historismus, arbeitete als
Journalist und Fernsehautor.
Doch in diesen zwanzig Jahren wurde Cullen vor allem zu dem
Reichstags-Architekturhistoriker schlechthin, seine Bücher sind bis heute
Standardwerke. Fast selbstverständlich zog man ihn also zu Rate, als die
Parlamentarier eine Kuppel haben wollten und [3][der Architekt Norman
Foster] das zunächst vehement ablehnte. Zog ihn zu Rate, als es um die
Inschriften sowjetischer Soldaten aus dem Sommer 1945 ging. Zog ihn zu Rate
für die Sanierung des Brandenburger Tors. Auch dies ist schließlich gebaute
Politik.
Am Sonntag wird der scheinbar unermüdliche, immer noch ein Buch zum Thema
aus den Regalen suchende Michael Cullen 85 Jahre jung. Dass das Land Berlin
diesem Mann niemals eine Professur gab, der so viel über Berlin, Politik
und die Kämpfe erzählen kann, die es braucht, um das Richtige zu wagen –
eine andere Geschichte.
Sicher aber ist: Hätten die Schlossfassaden-Fans den Mut des Bundestags
gehabt und dem Humboldtforum architektonisch wenigstens einen Hauch
gebauter weltoffener Modernität gegeben – sie hätten viele Probleme
weniger. Glückwunsch, Michael. Bis zum nächsten Espresso in der so
wunderbar amerikanischen Wohnküche mit Blick in den Berliner Hinterhof.
8 Jun 2024
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_S._Cullen
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Christo_und_Jeanne-Claude
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Norman_Foster
## AUTOREN
Nikolaus Bernau
## TAGS
Reichstag
Berliner Stadtschloss
Architektur
Deutschland
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