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# taz.de -- Umzugs-Jubiläum der Bundespolitik: Die Bühne der Berliner Republik
> Vor zehn Jahren übergab Wolfgang Thierse den umgebauten Reichstag den
> Abgeordneten des Bundestags. Heute ist vor allem die Kuppel ein
> Berlin-Event. Doch richtig nah sind sich Mensch und Politik nicht
> gekommen.
Bild: Hat mit angepackt: Wolfgang Thierse (SPD) zieht um.
Fünfzig Zentimeter lang war der Schlüssel zum Reichstagsgebäude, den
Wolfgang Thierse (SPD), damals Bundestagspräsident, am 19. April 1999 in
Berlin in die Höhe reckte. Es war ein Bild, das an Pokalsiege im Fußball
erinnerte. Um Thierse herum stand der halbe Bonner Bundestag. Es wurde
geklatscht und gejohlt, als der Architekt Norman Foster den umgebauten
Reichstag an den neuen Hausherren übergab. Kurz darauf tagte erstmals auch
der Bundestag im neuen Gebäude, erinnert sich Thierse. Den Moment empfand
er als glückliches "Geschichtsgefühl".
Zehn Jahre nach dem Umbau des Reichstagsgebäudes für den Deutschen
Bundestag ist der Foster-Bau zum Symbol der politischen Einheit
Deutschlands avanciert. Jeder weiß, dass hier das demokratisch gewählte
Parlament tagt. Abgeordnete sieht man ein und aus gehen. Minister fahren in
aller Öffentlichkeit vor, ebenso die Kanzlerin und ihr Gefolge. Der
Reichstag ist Motiv und Bühne gleichzeitig.
Freilich wiegt das Gebäude, trotz des Umbaus, oft noch schwerer als seine
Funktion. Niemand sagt "Berliner Bundestag". Erst recht spricht keiner vom
"Sitz des Deutschen Bundestages" oder vom "Plenarbereich".
Der Reichstag heißt vielmehr "Reichstag", auch wenn es diesen seit 1933
nicht mehr gibt. Spätestens seit der Verhüllung durch Christo 1995 und
damit der "Befreiung" des Gemäuers von seiner unseligen Geschichte, steht
man in Berlin - was die Reflexion, den Mythos und die mehrschichtige
Historie des Reichstags angeht - "da locker drüber".
Hinzu kommt, dass Foster bei dem Umbau nur die Fassade stehen ließ.
Dahinter entwarf er ein komplett neues Innenleben aus Plenarsaal und
Fraktionssälen, aus Dachterrasse und spektakulärer Glaskuppel. Stahl und
Beton, Glas und helle Farben bildeten Fosters Material. Befangenheiten
angesichts dieser Moderne stellen sich da schwer ein.
Hatte es 1999 nach der Fertigstellung noch heftige Kontroversen über die
Namensgebung gegeben, sind die Debatten heute folglich vergessen. Die
Corporate Identity des Reichstags verbinden sowohl die Berliner als auch
die Touristen in den langen Besucherschlangen vor der Freitreppe kaum noch
mit der Zeit des Wilhelminismus - oder mit jener der Nazi-Diktatur.
Der Reichstag spielt vielmehr famos die Rolle eines "Hauses der
Demokratie". Wäre der Name "Palast der Republik" nicht besetzt, er würde
sich ebenso gut eignen. Einerseits ist er Kulisse für die Strandbars an der
Spree und touristisches Event in der Stadt. Andererseits verkörpert das
Berliner Symbol und Wahrzeichen die sogenannte Berliner Republik, die sich
in der Folge der Bonner Republik als ebenso offen wie europäisch geriert.
Nach zehn Jahren, meint Wolfgang Thierse, hätte sich bewahrheitet, dass die
Ängstlichkeiten vor einem politischen Wandel durch den Umzug des Parlaments
nach Berlin unbegründet gewesen seien. "Wir sind eine ganz normale,
durchschnittliche europäische Demokratie ohne Vormachtstreben".
Das klingt natürlich ein wenig euphemistisch angesichts des politischen
Schwergewichts, das die Bundesrepublik heute international darstellt.
Allerdings lässt gerade die Architektur keinen Zweifel: Kontinuitäten mit
der feudal-reaktionären oder faschistischen Vergangenheit sind an diesem
Ort ausgeschlossen. Der Reichstag gehört im Besuchsprogramm zur luftigen,
50 Meter hohen Kür beim Rundgang durch Berlin-Mitte. Erst wird auf den
Rasen vor dem Parlament gepicknickt, dann geht es vier Stockwerke hoch mit
dem Fahrstuhl auf die Dachterrasse, vorbei an moderner Kunst und mit Blick
in den Plenarsaal. Dresscodes gibt es nicht, auch keine herrischen Gesten
des Wachpersonals. Wer schließlich in der Kuppel steht, fühlt sich dem
Himmel näher als bodenschwerer Politik.
"Mit mittlerweile mehr als drei Millionen Besuchern jährlich ist das
Reichstagsgebäude das meistbesuchte Parlament weltweit", betont eine
Mitarbeiterin des Besucherdiensts des Bundestages. Attraktionen sind
natürlich die Ausstellungen im Reichstag, der über 600 Plätze fassende
Plenarsaal mit Regierungsbank und "Fetter Henne" darüber, die "Wandelgänge
der Macht" sowie der Spiegelkonus über den Köpfen der Abgeordneten.
Unschlagbar aber bleibt die begehbare gläserne Kuppel mit über 40 Metern
Durchmesser. Wer die sanft ansteigende Rampe hinaufgeht, fühlt sich wie in
einer schwebenden Raumhülle. Mehr als alles andere modern Gebaute in Berlin
bildet die Kuppel die Chiffre für Innovation und Offenheit des Hauses, für
Transparenz und Partizipation in der parlamentarischen Demokratie.
Dass genau das Letztere, nämlich die Rolle der Politik im Reichstag in den
vergangenen zehn Jahren, eher in den Hintergrund geraten ist, gehört zu den
anderen Erkenntnissen einer Rückschau. Verantwortlich dafür ist nicht nur
das schlechte Ansehen der Politik. Auch die vollmundigen Parolen anlässlich
des Umzugs wurden kaum eingelöst.
An der Spree, das war schon die Vorstellung beim Umzugsbeschluss 1991,
würde die Politik direkter und unmittelbarer am gesellschaftlichen,
kulturellen und sozialen Leben teilhaben als am idyllischen Rhein. Die
Stadt, ihre Bürger, der Alltag und die Probleme nach der Vereinigung
sollten in Dialog mit den Repräsentanten des Staates treten.
Noch heute sprechen Thierse und viele seiner Kollegen vom Standortvorteil
Berlins für die Politik. Hier würde die Vereinigung greifbar, so Thierse.
Dem könnten sich die Abgeordneten "nicht entziehen". - "Ich glaube, dass
das Problembewusstsein bei den Politikern durch den Amtssitz Berlin größer
ist, als es am Rhein gewesen wäre."
Vergleicht man Anspruch und Wirklichkeit, bleibt viel an leeren
Versprechungen. Auch der Reichstag gleicht einem Raumschiff. Auch im
Reichstag wird Öffentlichkeit inszeniert und Macht ausgeübt. Politik und
Demokratie sind nicht direkter geworden, eher ferner. Der Dialog mit den
Bürgern findet mehrheitlich in Talkrunden statt. Partizipation oder aktive
Teilhabe gibt es nur scheinbar.
Der Grund liegt auf der Hand. Es fehlt an Zeit und Raum für das
"Problembewusstsein". Montags beginnt die Arbeit im Parlament. Freitags
endet sie, erklärt die Mitarbeiterin des Besucherdiensts. Die Gremien des
Bundestages und die Parteien bestimmen den harten Rhythmus
parlamentarischer Arbeit bis tief in die Nacht. Alles läuft wie geschmiert,
der Reichstag bietet in den Sitzungswochen einen perfekten Rahmen für die
Parlamentsarbeit.
Auch deshalb ist Marcus Weinberg, CDU-Bildungsexperte im Bundestag, ein
Befürworter des "Arbeitsparlaments". Dass zugleich immer weniger Zeit
bleibt, räumt er unumwunden ein. In Berlin sei alles "straff
durchorganisiert". Der Betrieb in den Sitzungswochen erinnere manchmal an
eine "Tretmühle", die parlamentarische Arbeit werde komplexer, die Themen
seien spezieller.
Tausende von Anträgen und Änderungsanträgen durchlaufen in einer
Legislaturperiode die Fraktionen. Ausschuss jagt Ausschuss. Um jeden Zusatz
wird gerungen. Von über 700 Gesetzen in vier Jahren erzählt die Frau vom
Besucherdienst ihrer Gruppe.
Die Schaulustigen schütteln den Kopf und wollen sofort in die Kuppel. Dort
macht der Reichstag wieder Spaß.
16 Apr 2009
## AUTOREN
Rolf Lautenschläger
## TAGS
Reichstag
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