# taz.de -- Rundfahrt mit Einsamkeitsbeauftragtem: Allein in der Platte | |
> Weil immer mehr Menschen unter Einsamkeit leiden, beschäftigt eine | |
> Erfurter Wohnungsbaugenossenschaft einen Lotsen. Begegnungen bei einer | |
> Rundfahrt. | |
Erfurttaz | Sylvio Böhm ist spät dran. Das Vorgespräch mit der taz hatte | |
sich in die Länge gezogen und auch die Fahrt vom Erfurter Zentrum in den | |
Südosten der Stadt dauert eben ihre Zeit – auch wenn heute nicht viel | |
Verkehr ist. Eigentlich ist er so gut wie immer pünktlich, aber: „Die | |
meisten meiner Klienten warten immer schon auf mich“, sagt Sylvio Böhm. | |
Weil sie sich freuen. Weil sie dann jemanden zu Besuch haben, der bei ihnen | |
auf dem Sofa sitzt, der Zeit hat für ein Gespräch über dies und das, für | |
Kaffee und Kuchen und für Kummer oder Sorgen. Und weil sie für eine Stunde | |
nicht einsam sind. Böhm ist Genossenschaftslotse der | |
Wohnungsbaugenossenschaft Einheit eG in Erfurt (WBG) und auf dem Weg zu | |
seiner ersten Klientin an diesem Mittwochvormittag. | |
## Frau Geißler | |
Heidrun Geißler wartet schon, als Böhm mit der taz im Schlepptau an der Tür | |
klingelt. Sie wohnt in [1][Erfurt-Melchendorf] in einem fünfstöckigen | |
Plattenbau aus DDR-Zeiten. Der wurde nach der Wende wie alle anderen | |
Gebäuderiegel im Wohngebiet im Südosten der thüringischen Landeshauptstadt | |
aufwendig saniert. Heidrun Geißler lächelt, als sie im dritten Stockwerk | |
flink die Tür öffnet und sich erst mal entschuldigt, weil sie heute noch | |
nicht staubgesaugt hat. „Gucken Sie bloß nicht so genau hin“, sagt sie und | |
wird zur Begrüßung von Sylvio Böhm umarmt. Dennoch wird sich durchweg | |
gesiezt. Dem Reporter streckt sie die Hand entgegen. „Ich putze alles | |
allein“, schiebt sie noch hinterher, „ich habe doch noch eine gesunde | |
Hand.“ | |
Frau Geißler ist nach einem Schlaganfall vor rund zwei Jahren linksseitig | |
gelähmt und hat sich mit ihrer Lage arrangiert, wie sie erzählt. Sie läuft | |
„ein bisschen schlecht“, benutzt draußen einen Rollator. „Das belastet | |
mich, ist ja aber nötig.“ In der Wohnung bewegt sie sich ganz ohne Gehhilfe | |
– als sie das sagt, schwingt Stolz mit. In der Reha hatte man ihr | |
nahegelegt, besser in ein Pflegeheim zu ziehen. „Aber nicht mit mir“, sagt | |
Heidrun Geißler kämpferisch. | |
Im Mai ist die Erfurterin 80 geworden. Seit 21 Jahren wohnt sie in ihrer | |
schönen hellen Genossenschaftswohnung auf rund 80 Quadratmetern, hat zwei | |
Balkons und ein altersgerechtes Bad. Einen Fahrstuhl gibt es auch. Als ihr | |
Mann vor 11 Jahren starb, hatte sie über einen Umzug in eine kleinere | |
Wohnung nachgedacht. Aber nicht lange: 60 Quadratmeter wären teurer | |
gekommen als die jetzige Wohnung. | |
Zum Sohn hält sie Kontakt, er lebt auch in Erfurt, betreibt ein Restaurant | |
und hat „leider wenig Zeit“. Sohnemann kommt aber trotzdem regelmäßig zu | |
Besuch. Einmal die Woche kommt eine Haushaltshilfe für zwei Stunden, vom | |
Pflegegeld der Stufe 1 bezahlt. Verpflegen tut sich Heidrun Geißler selbst. | |
„Ich bin gut dran“, fasst sie ihre Lage zusammen. Nur einkaufen geht allein | |
nicht mehr, weil sie schnell das Gleichgewicht verliert. Hier springen die | |
Nachbarn ein. „Ich habe Kontakt hier im Haus, das ist nicht so anonym wie | |
woanders, viele wohnen schon lange hier.“ Auch eine enge Freundin – Heidrun | |
Geißler weist mit dem Finger nach oben. „Sie duscht mich immer freitags“, | |
sagt sie gerade, als wie zum Beweis das Smartphone klingelt. Die Freundin | |
ist dran und will kurz nachfragen, ob alles gut sei. Ja, ist es. „Herr Böhm | |
ist gerade da.“ | |
Auch wenn Frau Geißler also auf andere Menschen zurückgreifen kann, sind | |
ihr Böhms Besuche „ganz wichtig“, weil sie die „ganze Woche allein ist�… | |
Meistens gehen die beiden spazieren und „reden, reden, reden“ – | |
beziehungsweise Herr Böhm hört zu. Heidrun Geißler lauscht man gerne. Sie | |
ist eine Frau, die lebhaft, amüsant und schlagfertig ist. Eine Frohnatur, | |
die mit Menschen kann. Sie war viele Jahre selbstständige Friseurin in | |
einem Salon im Erfurter Zentrum. Noch heute komme ein ehemaliger Stammkunde | |
zu ihr nach Hause zum Haareschneiden. Mit nur noch einer gesunden Hand? Das | |
geht gut, sagt sie. „Er merkt am Ergebnis keinen Unterschied zu früher.“ | |
Und wie oft sieht sie Sylvio Böhm? „Viel zu wenig“, lacht Frau Geißler bei | |
der Antwort auf. „Wir versuchen es wöchentlich“, sagt der | |
Genossenschaftslotse. „Meistens funktioniert das auch.“ | |
## Herrn Böhms Job | |
„Wir wollen, dass unsere Mitglieder so lange wie möglich selbstbestimmt in | |
ihren Wohnungen leben können“, umreißt Sylvio Böhm das Ziel der WBG, die | |
sogar eine Begegnungsstätte mit dem schönen Namen „Heimatstern“ betreibt. | |
Dort können sich ältere Menschen zum Spielenachmittag, Kinoabend, Qigong | |
oder Tanztee treffen. Wenn sie wollen. Frau Geißler etwa ist das zu viel, | |
mit all den „fremden Menschen“. Und weil sie damit nicht alleine ist, wurde | |
Böhms Stelle erfunden: Seit Oktober 2019 arbeitet der 56-jährige als | |
Genossenschaftslotse. Zum Team gehören auch zwei Ansprechpartnerinnen in | |
einem Büro mitten im Wohngebiet Melchendorf und zusätzlich eine | |
Seniorenlotsin. | |
Sylvio Böhm bezeichnet sich als Quereinsteiger. In seinem Lehrberuf | |
Elektriker hat er zehn Jahre gearbeitet und hat danach in den Einzelhandel | |
gewechselt, unter anderem als Storemanager in einem Geschäft für | |
hochwertige Bekleidung. Als er nach fast 18 Jahren einen neuen Job suchte, | |
habe ihm eine Freundin gesagt, dass er doch „so ein kommunikativer Typ“ | |
sei, und so kam eins zum anderen. | |
Weil sich [2][immer mehr Menschen einsam] fühlten, entstand in der WGB die | |
Idee, der Vereinsamung etwas entgegenzusetzen. Für diesen Job wollten sie | |
ganz bewusst niemanden aus der Immobilienwirtschaft – und auch keinen | |
Psychologen, sondern eine Person, die sozusagen von Hause aus freundlich, | |
offen und charmant ist. Die sich auf unterschiedlichste Typen einstellen | |
kann, zupackend und zielorientiert. | |
Böhm kann sich noch gut an die ersten Wochen seines neuen Jobs erinnern: | |
„Im Prinzip war ich wie ein Staubsaugervertreter“, erzählt er lachend. „… | |
habe hier und da geklingelt und mich und meine Arbeit vorgestellt.“ Als | |
Genossenschaftslotse besucht er einsame und hilfsbedürftige Senioren. „Ich | |
gehe mit ihnen spazieren oder fahre sie im Rollstuhl aus, um sie aus ihren | |
Wohnungen zu locken“, sagt Herr Böhm, „wenn es mir gelingt.“ Nun, es | |
gelingt ihm oft. | |
Es geht auch um praktische Dinge und Formalitäten: Pflegestufen und | |
Pflegegraderhöhungen beantragen oder, etwa in Fällen von Demenz, eine | |
Betreuung über das Amtsgericht anzuregen. Oder um Wohngeldanträge. | |
Auch psychisch kranken Mietern anderer Altersgruppen bietet Böhm seine | |
Hilfe an. „Auch junge Leute können einsam sein, nicht nur Alte“, sagt er. | |
Auch für Suchtkranke oder Fälle von Verwahrlosung ist er zuständig. Wenn | |
beide Seiten einverstanden sind, versucht er auch, bei Konflikten zwischen | |
den Mietern zu vermitteln. „Frieden zu stiften“, wie er sagt. | |
Für solche Termine hat die WGB eigens Schokoladentafeln mit dem Namen | |
„Einheit“ als Begrüßungsgeschenke prägen lassen, wahlweise kann es aber | |
auch ein Piccolo-Sekt der nicht nur in Erfurt beliebten Marke „Rotkäppchen“ | |
sein. Beides hat Böhm auch bei seinen Hausbesuchen dabei. Und über eine | |
Schokolade wird sich auch die zweite Seniorin freuen, die wir nun | |
ansteuern. | |
## Frau Bickrodt | |
Im Firmenwagen mit dem weithin sichtbaren WBG-Logo setzt Herr Böhm | |
routiniert den Blinker, und ein paar Fahrminuten später sind wir am | |
Drosselberg. Im dritten Stock eines Plattenbaus klingeln wir – und warten | |
ein Weilchen. „Hat sie den Termin vergessen?“, fragt sich Sylvio Böhm | |
besorgt, das wäre gar nicht ihre Art. Aber da macht Ursula Bickrodt schon | |
die Tür auf. Die 91-Jährige hat wohl gerade ein Nickerchen gemacht. | |
Sie trägt ein leuchtend orangefarbenes Oberteil und einen kunstvoll | |
geflochtenen Dutt. Auch sie wird zur Begrüßung herzlich gedrückt von Herrn | |
Böhm. Eine Umarmung ist so wichtig. Die Schokolade aber wird erst beim | |
herzlichen Abschied überreicht. | |
Statt auf eine erste Frage zu warten, fragt Bickrodt den Reporter aus | |
Berlin, ob das Thema alte, einsame Menschen denn wirklich jemanden | |
interessiere da draußen – „die Menschen sind doch heute so abgebrüht“. | |
Ursula Bickrodt hatte „ein schlechtes Leben“, wie sie erzählt. In | |
Sondershausen geboren, in Bebra aufgewachsen, also in Thüringen, ist sie | |
erst nach der Wende nach Erfurt gezogen. „Dabei bin ich doch ein Dorfmensch | |
und liebe die Natur.“ Kommt Herr Böhm vorbei, gehen die beiden an guten | |
Tagen spazieren oder setzen sich halt hinters Haus und schauen ins Grüne | |
und unterhalten sich. | |
Die Mutter war krank, „die drei Brüder hingen mir am Rockzipfel“, dazu | |
kamen wohl traumatisierende Erlebnisse, denn der Zweite Weltkrieg taucht ab | |
und an in ihren Erzählungen ganz unvermittelt immer wieder auf („Krieg, | |
Sirenen, Keller“), ebenso die DDR-Zeit („man durfte nichts sagen“) und | |
natürlich die Familie. „Das Elternhaus ist nun vermietet“, bedauert Ursula | |
Bickrodt, nachdem der letzte lebende Bruder „ins Altenheim ziehen musste“. | |
Sie selbst wohnte viele Jahre in Erfurt in einem schönen Altbau mit Stuck | |
und Holzdielen, erzählt sie. Die Einraumwohnung hier, in der sie nun schon | |
12 Jahre lang lebt, mag sie aber immer noch nicht, sie fühlt sich | |
eingepfercht: „Die riecht nach Bunker.“ | |
Der frühe Tod eines Sohnes – ein Jugendfoto von ihm steht neben dem Bett – | |
und der ihres Mannes hinterließen Narben auf der Seele. Eine Tochter lebt | |
weit weg in Gelsenkirchen. Ein Sohn ganz in der Nähe, doch er hat den | |
Kontakt vor Längerem abgebrochen. „Er hat sich entmuttert“, sagt Ursula | |
Bickrodt und klingt traurig dabei. | |
Na ja, sagt sie, „das ist schon schlimm. Niemand ist da, ich könnte | |
umfallen und dann …“, beendet sie den Satz nicht. Sie ist krank, hat vor | |
Jahren Krebs überlebt, redet darüber aber kaum, wie Sylvio Böhm später im | |
Auto erzählt. Frau Bickrodt sagt mit sarkastischem Unterton: „Die paar Tage | |
kriege ich auch noch rum. Mit 91 hast du doch den Drücker in der Hand.“ | |
Sie hat Pflegestufe 1, bekommt also sogenanntes Entlastungsgeld und könnte | |
es für eine Haushaltshilfe, die entweder sauber macht oder den Einkauf | |
übernimmt, verwenden. Das kommt für sie aber nicht infrage. Lieber gibt sie | |
das Geld einem Nachbarn aus dem Haus, dem sie vertraut, der für sie | |
einkauft und auch Geld abhebt, wenn sie welches braucht. „Er wohnt eins | |
höher und setzt sich auch mal zu mir und hört zu.“ | |
Und Herr Böhm? „Der ist wie ein Verwandter“, sagt Frau Bickrodt, die das | |
Gespräch sichtlich zu genießen scheint. „Ich nenne ihn ja immer Böhmchen, | |
wenn er kommt.“ Das ist in der Regel einmal die Woche der Fall, für ein | |
Stündchen. „Wir reden viel“, sagt Böhm, „auch über Gedichte, oder sing… | |
zusammen alte Lieder, nur kann ich die meisten Texte leider nicht.“ | |
Wie auf Stichwort beginnt Ursula Bickrodt ungeniert zu singen mit einer gut | |
modellierten hohen Sopranstimme. Gesangsunterricht habe sie nie gehabt, | |
auch wenn es so klingt: „Mutterl, unterm Dach ist ein Nesterl gebaut, | |
schau, schau, schau, ja-a schau! Dort hat der Dompfaff ein Pärchen getraut, | |
trau, trau, trau, ja-a trau.“ Es handelt sich um den Refrain des | |
„Schwalbenliedes“ von Heintje aus dem Jahre 1967, also um einen Schlager. | |
Dann kommt gleich ein Gedicht hinterher: „Beim Totengräber pocht es an: / | |
Mach auf, mach auf, du greiser Mann! / Tu auf die Tür und nimm den Stab, / | |
Mußt zeigen mir ein teures Grab!“ Die Zeilen stammen von Johann Nepomuk | |
Vogl (1802–66). „Tja,“, sagt Ursula Bickrodt. „das ist derzeit mein The… | |
Sie selbst nimmt das Wort Einsamkeit nicht den Mund. Später im Auto sagt | |
Herr Böhm: „Sie ist seit 40 Jahren alleinstehend, wer würde sich da nicht | |
einsam fühlen?“ Und er erzählt auch, dass er schön öfter erst einmal | |
Lebensmittel einkaufen gegangen ist, wenn er sie besucht hat, weil nichts | |
zu essen im Haus war. „Das Gefühl, dass ich Angehörige ersetzen soll oder | |
muss“, räumt er ein, „bereitet mir Unbehagen.“ | |
## Herrn Böhms Fingerspitzengefühl | |
Der Genossenschaftslotse hat Seminare für Mediation und Konfliktmanagement | |
besucht. „Ich brauche Fingerspitzengefühl“, sagt Böhm. „Denn der Umgang… | |
Menschen ist nicht einfach.“ Es gibt die Verschlossenen, die alles ablehnen | |
und abwehren. Dann die, die Nähe suchen und sehr mitteilungsbedürftig sind. | |
Und natürlich gibt es auch aggressive Menschen. „Aber ich bin für alle da. | |
Mir muss es bei jedem gelingen, Vertrauen zu erwecken, auf dass sie mich | |
annehmen, damit ich helfen kann. Das ist die kleine Hürde bei meiner | |
Arbeit.“ | |
In den viereinhalb Jahren als Genossenschaftslotse hat Böhm genau 408 | |
Klienten mindestens einmal besucht. Bei Menschen, die extrem unter | |
Einsamkeit leiden, versucht er es wöchentlich. Zurzeit klappt das ganz gut, | |
weil es nicht so viele sind: Fünf fordern das in der Häufigkeit ein: „Und | |
das sind die, die weinen, wenn ich komme, oder weinen, wenn ich gehe. Wo | |
ich merke: Die leiden stark.“ | |
Am meisten litten Menschen, die noch Familienangehörige haben, die aber | |
nicht unterstützen wollen oder können. Das ist laut Böhms Erfahrung oft | |
schlimmer als bei Menschen, deren Freunde und Verwandte über die Jahre | |
verstorben sind. „Ich unterscheide in zwei Gruppen“, sagt Böhm: „die | |
Einsamen und die Vergessenen.“ | |
## Frau Eberhardt | |
Dritte Station in Erfurt-Melchendorf: Am Wiesenhügel, wieder ein | |
Plattenbau. Hier wohnt Rosel Eberhardt, sie wird wie die beiden Damen zuvor | |
geherzt und zur Begrüßung umarmt. Auf dem Sofa sitzend, kommt die Sprache, | |
wie das so ist, wenn da jemand Fremdes dabei ist, erst mal aufs Wetter. „Es | |
müsste mal wieder regnen“, sagt die 84-Jährige. | |
Im thüringischen Rothenburg geboren, lebt Rosel Eberhardt seit 35 Jahren in | |
Erfurt, hat unter anderem bei der Stadt im Rechnungswesen gearbeitet. Seit | |
25 Jahren ist sie WBG-Mitglied und seither nur einmal umgezogen, weil der | |
damalige Plattenbau rückgebaut wurde, wie sie erzählt. „Auf so eine Idee | |
käme heute niemand mehr“, wirft Sylvio Böhm ein. | |
Rosel Eberhardt sagt, sie sei zufrieden mit ihrer hellen kleinen Wohnung | |
mit Balkon. Rund 270 Euro Miete zahlt sie für ihre 44 Quadratmeter. | |
Gesundheitlich aber gehe es ihr hingegen gar nicht gut. „Ich kann schlecht | |
laufen, mit dem Rollator aber noch selbst einkaufen gehen, auch wenn es | |
beschwerlich ist.“ Sie fährt mit der Straßenbahn ins Zentrum, wenn es sein | |
muss, zum Beispiel zum Orthopädieschuhmacher wegen neuer Einlagen. | |
„Mein Körper ist arg lädiert“ sagt sie und zählt ihre Leiden auf: | |
Chronischer Reflux, Osteoporose, eigentlich müsste sie am Handgelenk | |
operiert werden, und sie hat viele Allergien. „Deshalb pendele ich | |
Lebensmittel aus“, um allergische Reaktionen möglichst zu umgehen. | |
Deshalb kauft sie ausschließlich Bioprodukte und allerhand | |
Nahrungsergänzungsmittel. Das ist zwar recht teuer, ihre Rente sei auch | |
nicht so hoch – „aber zu DDR-Zeiten habe ich wirtschaften gelernt“. Dazu | |
liest sie Fachliteratur, um sich über die Medikamente zu informieren, die | |
sie einnehmen muss. Frau Eberhardt ist ein kritischer, wachsamer und | |
vorsichtiger Geist. | |
In die WBG-Begegnungsstätte zu gehen ist deshalb nichts für sie. „Wegen | |
der vielen Leute und wegen der Ansteckungsgefahr.“ Herr Böhm wirft er an | |
dieser Stelle ein, er würde aber nicht lockerlassen, und vielleicht lässt | |
sich Frau Eberhardt doch eines Tages dazu bewegen, einmal zu einer der | |
Veranstaltungen zu gehen … Denn sie sagt im Gespräch mit der taz ja selbst, | |
dass sie einsam ist: „Keiner ist da.“ Viele Bekannte sind gestorben. Und | |
früher kannte man sich im Wohnviertel und im Haus, da gab es immer ein | |
Schwätzchen – „heute ist das leider nicht mehr so“. | |
Das stimmt, sagt auch Herr Böhm: „Als früher die Mieter noch selbst die | |
Treppe wischten, kam man leichter ins Gespräch als heute, wo das eine Firma | |
erledigt. Früher gab es keinen Fahrstuhl, da begegnete man sich auf der | |
Treppe. Auch das ist heute anders. Man sieht die Nachbarn ja gar nicht | |
mehr.“ | |
Ein Sohn von Frau Eberhardt lebt in Braunschweig, eine Tochter in Worms, | |
ein Sohn aber wie sie in Erfurt, und zu ihm hat sie öfter Kontakt, er hilft | |
der Mutter hier und da mit einer Internetrecherche zu einem Medikament | |
etc. aus. Frau Eberhardt hat keinen Computer und kein Handy, beides kommt | |
ihr nicht ins Haus. Ein Festnetztelefon und ein Fernseher reichen. Auch | |
eine Vorsorgevollmacht hat sie. Den Nutzen eines Notfallknopfes dagegen | |
kann sie für sich noch nicht erkennen. | |
Sie hat Pflegestufe 1 und leistet sich von dem Geld einen Pflegedienst, der | |
für sie alle schweren Einkaufssachen wie Kartoffeln oder Wasserkisten | |
besorgt. „Ich wünschte, ich wäre ein bisschen gesünder und könnte noch me… | |
machen. Dann würde ich mir etwas zur Rente dazuverdienen – auch wegen der | |
sozialen Kontakte.“ | |
Herr Böhm ist so ein Kontakt. „Solche Termine wie der wöchentliche mit Frau | |
Eberhardt gehören zum angenehmsten Teil meiner Arbeit.“ Praktisch sind | |
seine Besuche auch. Ist es etwas kaputtgegangen, kann das Böhm gleich | |
weiterleiten, damit sich der Hausmeister oder eine Firma darum kümmert. | |
„Ich freue mich, wenn Herr Böhm kommt“, sagt Frau Eberhardt, danach | |
gefragt, was ihr die regelmäßigen Besuche des Genossenschaftslotsen | |
bedeuten. „Das ist mein großes Glück, er ist eine Stütze. Gott sei Dank | |
gibt es ihn. Er vermittelt mir ein Gefühl von Sicherheit. Wir unterhalten | |
uns viel, das ist mir sehr wichtig. Hier im Haus ist sich jeder selbst der | |
Nächste, da gibt es keine Kontakte. Der Einzige, mit dem ich Klartext reden | |
kann, dem ich mein Herz ausschütten kann, ist Herr Böhm.“ | |
4 Jun 2024 | |
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