# taz.de -- Lieferkettengesetz in Europa: Die Schweiz liefert nicht | |
> Die EU hat bald ein Lieferkettengesetz – die Schweiz hinkt hinterher. Nun | |
> soll eine Volksinitiative Schweizer Großkonzerne in die Pflicht nehmen. | |
Bild: Die Schweizer Initiative aus dem Jahr 2020 ist an den Kantonen gescheiter… | |
BERLIN taz | Bald hat ganz Europa [1][ein Lieferkettengesetz], es braucht | |
nur noch die Zustimmung des EU-Parlaments am 24. April, und die gilt als | |
wahrscheinlich. Damit werden große Firmen künftig verpflichtet sein, sich | |
um die sozialen und ökologischen Menschenrechte der Beschäftigten ihrer | |
weltweiten Zulieferer zu kümmern – in ganz Europa. Ganz Europa? Nein! Ein | |
reiches Land im Herzen des Kontinents kennt solche | |
Unternehmensverantwortung nicht: die Schweiz. Doch das könnte sich nun | |
ändern. | |
Die Schweizer:innen hatten im November 2020 mit 50,7 Prozent hauchdünn | |
[2][für die sogenannte Konzernverantwortungsinitiative gestimm]t. Doch die | |
bei einer Volksinitiative in der Schweiz ebenfalls notwendige Zustimmung | |
einer Mehrheit der Kantone wurde nicht erreicht. Die Initiative forderte, | |
dass Konzerne mit Sitz in der Schweiz die Menschenrechte und internationale | |
Umweltstandards auch außerhalb der Schweiz zu respektieren haben – ein | |
Schweizer Lieferkettengesetz. | |
Die EU-Richtlinie ist, was Umwelt- und Klimaschutz betrifft, im Vergleich | |
zur gescheiterten Konzernverantwortungsinitiative in der Schweiz weiter | |
gefasst. Bezüglich der Mindestgröße der betroffenen Unternehmen ging das | |
Schweizer Vorhaben jedoch weiter als jenes der EU. | |
Vor der Abstimmung hatte eine orangefarbene Welle die Schweiz erfasst. | |
Orangefarbene Fahnen, die für die Initiative warben, hingen an | |
Gartenzäunen, Fenstern und Balkonen. Bei den Regeln für Schweizer Firmen | |
sollte es keinen Schweizer Alleingang geben, sondern ein „international | |
abgestimmtes“ Vorgehen. Das war das wichtigste Argument der Schweizer | |
Regierung gegen die Volksinitiative zur Konzernverantwortung – obschon es | |
praktisch in allen europäischen Staaten schon solche Gesetze gab. | |
## Keine Sanktionen | |
In der Folge trat 2022 ein Gegenvorschlag des Parlaments in Kraft, der | |
weniger weit ging als die Initiative. Dieser enthält Berichtspflichten und | |
zusätzliche Sorgfaltspflichten in einzelnen Bereichen wie Kinderarbeit. Bei | |
Verstößen drohen keine Sanktionen. | |
Diese „Reporting“-Pflicht stützt sich auf eine EU-Regelung, die schon seit | |
2014 gilt. 2022 wurden die Vorgaben in der EU nochmals verschärft. Obwohl | |
die EU schon bald ein Lieferkettengesetz haben dürfte, plant die Schweiz | |
erst einmal nur eine Angleichung an die verschärfte „Reporting“-Pflicht der | |
EU von 2022. Eine Einführung eines Lieferkettengesetzes ist nicht geplant. | |
Heißt: Ab diesem Jahr müssen Schweizer Unternehmen erstmals über das | |
Vorjahr berichten – nach den alten EU-Vorgaben von 2014. | |
Davon ist wohl wenig zu erwarten. Die EU-Kommission erarbeitete bereits | |
2020 eine Studie, die die Wirksamkeit der Berichterstattungspflicht | |
untersucht hat. Sie fasste das Resultat so zusammen: „Die Ergebnisse | |
zeigen, dass freiwillige Maßnahmen zur Bekämpfung von | |
Menschenrechtsverletzungen, Umwelt- und Klimaschäden durch Unternehmen, | |
obwohl sie durch die Berichterstattung gefördert werden, nicht zu den | |
notwendigen Verhaltensänderungen geführt haben.“ | |
## Aktiv dafür sorgen, dass Mindestlöhne gezahlt werden | |
Darum erarbeitete die EU eine Lieferkettenrichtlinie, die mit dem | |
wahrscheinlichen Ja des EU-Parlaments am 24. April beschlossen werden | |
dürfte. Dann müssten hiesige Auftraggeber aktiv dafür sorgen, dass es bei | |
den Zulieferern nicht zu Kinder- und Zwangsarbeit kommt, Mindestlöhne | |
gezahlt werden, Mindesturlaub gewährt wird, die Beschäftigten unabhängigen | |
Gewerkschaften beitreten können und Agrarkonzerne das Land benachbarter | |
Bauern nicht vergiften. Ein solches Gesetz galt bisher zwar schon in | |
Deutschland und in anderen Staaten, aber nicht europaweit. | |
In der Schweiz stehen gleich mehrere große Konzerne immer wieder wegen | |
Menschenrechtsverletzungen und der Verursachung von Klimaschäden in der | |
Kritik. So gibt es Berichte über den Rückversicherer Swiss Re, der in | |
Brasilien illegal abgeholztes Agrarland versichern soll, über die | |
schmutzigen Methoden beim Kohleabbau einer Zuger Rohstoffgruppe in Borneo | |
oder darüber, wie Nestlé zusammen mit dem Schweizer Wirtschaftsministerium | |
gegen die mexikanische Gesundheitspolitik vorgeht. | |
Das Schokoladenunternehmen Lindt & Sprüngli soll in Ghana nur lückenhaft | |
die Kinderarbeit auf den Kakao-Plantagen überwachen, und in Kolumbien und | |
Peru wird dem Rohstoffkonzern Glencore „ein giftiges Erbe“ zur Last gelegt. | |
Die Liste ließe sich fortsetzen. | |
## Schweizer Unternehmen müssen mit Auswirkung rechnen | |
Doch bleibt die Schweiz vom neuen EU-Lieferkettengesetz, das solche | |
Missstände verhindern könnte, wirklich verschont? Tatsächlich wird das | |
Gesetz auch für große Unternehmen aus Drittstaaten gelten, also auch für | |
Schweizer Unternehmen, die in der EU einen Jahresumsatz von mindestens 450 | |
Millionen Euro erzielen. Als Zulieferer großer Firmen könnten auch kleine | |
und mittlere Unternehmen aus der Schweiz betroffen sein. | |
Eine Studie des Basler Beratungsbüros BSS und des deutschen Öko-Instituts | |
im Auftrag der Schweizer Regierung zeigt, dass Schweizer Unternehmen „mit | |
erheblichen Auswirkungen rechnen müssen – und zwar unabhängig davon, ob die | |
Schweiz die EU-Regeln übernimmt oder nicht.“ | |
Insgesamt würden rund 160 bis 260 Schweizer Unternehmen direkt unter die | |
Drittstaatenregelung der neuen EU-Richtlinie fallen. Weitere zehntausende | |
Schweizer Firmen würden mittelbar betroffen sein. So jedenfalls lautete die | |
Schätzung, bevor das Gesetz in diesem Jahr in der EU [3][auf Druck der | |
deutschen FDP deutlich entschärft] wurde. | |
Allerdings dürften wohl auch mit der neuen Fassung einige Schweizer | |
Unternehmen betroffen sein. Zwar seien „positive Auswirkungen auf | |
Nachhaltigkeit und Schutz der Menschenrechte plausibel, aber mit großen | |
Unsicherheiten behaftet“, heißt es in der Studie. Doch für viele | |
Unternehmen könnten „teils enorme Kosten und Haftungsrisiken entstehen“. | |
## Lieferkettengesetz ist ein wichtiger Schritt | |
Diese seien zu wenig darauf vorbereitet. Das Justiz- und das | |
Wirtschaftsministerium der Schweiz teilten mit, man werde die Studie des | |
Basler Beratungsbüros und des Öko-Instituts aktualisieren lassen, sobald | |
die EU das Lieferkettengesetz definitiv verabschiedet habe. Nach einer | |
„vertieften Analyse und unter Beobachtung, wie die Mitgliedstaaten der EU | |
die Richtlinie umsetzen“, werde die Schweizer Landesregierung über das | |
weitere Vorgehen entscheiden. Heißt: Die Regierung will erst mal beobachten | |
und abwarten. | |
Angesichts des erforderlichen Umsatzes von 450 Millionen Euro in der | |
Europäischen Union sind viele Schweizer Unternehmen nicht vom | |
EU-Lieferkettengesetz betroffen. Darum macht die Koalition für | |
Konzernverantwortung, der Nachfolgeverein der Organisation hinter der 2020 | |
gescheiterten Konzernverantwortungsinitiative, weiter: „Es braucht ein | |
Schweizer Gesetz, das sicherstellt, dass Betroffene von | |
Menschenrechtsverletzungen am Konzernsitz in der Schweiz Schadenersatz | |
einfordern können“, sagt Isabelle Bamert, die im Vorstand der Organisation | |
sitzt. Das Gesetz soll sich daran orientieren, wie es bald in der EU | |
geregelt sein wird, wo Unternehmen, falls sie eine Mitverantwortung für | |
Schäden tragen, vor europäischen Gerichten verklagt werden können. | |
Das EU-Lieferkettengesetz sei ein wichtiger Schritt, damit Konzerne die | |
Menschenrechte einhalten und die Umwelt nicht zerstören, sagt Bamert: „Für | |
uns ist klar, dass wir nach finaler Verabschiedung der EU-Richtlinie auch | |
in der Schweiz einen neuen Anlauf starten.“ Es dürfe nicht dazu kommen, | |
dass die Schweiz das einzige Land in Europa ohne Konzernverantwortung | |
werde. Schon diesen Sommer könnte es so weit sein: Eine neue | |
Volksinitiative wird lanciert, die sich an der EU-Regulierung orientiert. | |
Doch warum sollte es beim zweiten Anlauf klappen? Meinungsumfragen zeigten, | |
dass die Bevölkerung in der Schweiz ein Konzernverantwortungsgesetz | |
unterstütze, sagt Bamert. In der Tat wird das Argument des „Schweizer | |
Alleingangs“ nach Inkrafttreten der Lieferkettenrichtlinie in der EU nicht | |
mehr haltbar sein. | |
21 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] /EU-Lieferkettengesetz-kommt/!5997467 | |
[2] /Demokratie-und-Konzerne-in-der-Schweiz/!5727257 | |
[3] /Lieferketten-Richtlinie-im-EU-Rat/!5987354 | |
## AUTOREN | |
Carlo Mariani | |
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