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# taz.de -- Festival Babel Music XP in Marseille: Schluss mit Weltmusik​
> Kulturaustausch am Mittelmeer: Das Festival Babel Music XP führt im
> Melting Pot Marseilles auf musikalischen Erkundungsfahrten durch die
> Welt.
Bild: Türmt mit allerlei traditionellen Perkussionsinstrumenten Drums und Bäs…
Die provenzalische Hafenstadt [1][Marseille, ein Quell der Ambiguitäten]:
Flanierende Millionäre, die sich in Schale geworfen haben, statten sich auf
Einkaufsstraßen mit den aktuellen Taschen von Louis Vuitton aus. Dort
treffen sie auf Abgehängte, die – im besten Fall – in den Sozialwohnungen
ihre Heimstatt haben.
Hunderte solcher Wohnungen sind zu einem weiß-strahlenden Block in
betörendem (post-)modernen Design verpackt, während innen die Wartung seit
Jahrzehnten stiefmütterlich behandelt wird. Die Folge solcher
Vernachlässigung sind über 300 teils imposante Gebäude in ganz Marseille,
die als „potenziell einsturzgefährdet“ eingestuft sind. Viele dieser
architektonischen Hingucker befinden sich im Viertel La Joliette, das in
seinem Herzen einen besonderen Kulturort trägt: Die Docks-des-Suds.
Als La Joliette noch ein Hafenviertel war, da war die heutige Konzerthalle
ein Zuckerkontor, von dem Südsee-Zucker aus dem Indischen Ozean raffiniert
und in Westeuropa verteilt wurde. Heute spielen hier Bands auf drei Bühnen,
zum Beispiel während des [2][Festivals Babel Music XP]. Festivalchef
Olivier Rey vergleicht sein Ziehkind – er ist seit über zehn Jahren dabei
und war früher Pressesprecher – gerne mit dem Veranstaltungsort: „So wie
früher der Zucker, kommt heute Musik aus der ganzen Welt bei uns an – und
findet dann seinen Weg in den Rest Frankreichs, nach Europa und die USA.“
Dafür nutze man, sagt Rey, die besondere Lage und die Geschichte Marseilles
– der „unfranzösischsten Stadt in Frankreich“, wie er betont. Marseille …
zwar nicht die einzige Stadt am Mittelmeer, die einem wildwüchsigen Melting
Pot gleicht, die durch Jahrtausende der Besiedlungsgeschichte durch
allerlei Völkchen geprägt ist; doch nirgends treffen maurische Tradition
und mediterranes Franzosentum, okzitanische Separation und moderner
Metropolismus, post-koloniale Realismen und notorischer Größenwahn so
ungebremst aufeinander. Der große Hafen, hunderte Synagogen und die
heutzutage vor allem arabisch geprägten Straßen: Selbst wenn Marseille es
nicht wollte, wäre es eines dieser „Tore zur Welt“.
## Das Tor zur Welt
Das Motiv des Tors zitiert Oliver Rey sehr gerne, denn im Arabischen heißt
das Tor „El Bab“. Und aus „El Bab“ wurde „Babel“. Im Hinterkopf ste…
biblische Babylon mit seinem Sprachgewirr und der Menschheit, die in alle
Richtungen verteilt wurde. Doch auch die arabische Deutung betont man.
Das Festival ruht auf drei Säulen: Da sind einerseits die Musikmesse (der
Zusatz XP steht für Expo) und die Konferenz. Es sind branchenübliche Plätze
zum Austausch. Diese beiden Säulen seien für „die Musikindustrie“ und
stellten die „ökonomisch-wirtschaftliche Seite“ dar, sagt Rey. Dafür seien
diesmal mit 1.800 Delegierten sogar 300 mehr angereist als letztes Jahr.
„Ein Erfolg, dass wir im zweiten Jahr seit dem Reboot schon größer werden�…
erklärt der Festivalchef, der auch andere Zeiten erlebt hat. Denn das
heutige Babel Music XP gab es bereits bis 2016 als „Babel Med Music – Forum
Musiques du Monde“, dieses geriet dann wiederum in Schwierigkeiten,
pausierte und wurde schlussendlich 2023 neu aufgestellt. Man verzichtete im
selben Atemzug auf den Untertitel, denn „Weltmusiker wolle und müsse heute
keiner mehr sein“.
Das Label „Weltmusik“ besaß einst ein emanzipatives Moment („In den 80er
fand man hier die spannendsten Platten“, sagt Rey), wird heute aber von
vielen Musiker*innen als pejorativ und erniedrigend empfunden. Aber
kommen wir zurück zu den Säulen, denn es gibt noch eine dritte – sie ist
die spannendste: Es ist das Showcase-Festival mit neun bis zwölf Acts pro
Abend, das auch die Marseillaiser anziehen soll.
Diese nehmen das Festival auch an, das Publikum ist zwischen 16 und 66,
einige in tribalistischer Verkleidung, andere in der Klamotte der Straße
mit Sneaks, Jogginghose und Hoodie. Breit gefächert nennt man sowas.
Dooropener ist dabei der vergleichbar geringe Eintrittspreis mit 20 Euro
pro Abend. Nicht alle kommen für die Musik, das ist normal bei einem
solchen Event, doch die drei Bühnen laden zum Reinschnuppern ein.
## Kulturaustausch seit über 3.000 Jahren
Am ersten Abend läuft es trotzdem etwas schleppend. Dabei ist die
musikalische Qualität durchgängig sehr hoch. Am Gründonnerstag spielen
neben Marseille noch andere mediterrane Städte eine große Rolle. Aus Neapel
kommt das Trio Suonno D’Ajere, das die uralte Liedkultur der Stadt am Vesuv
und den eigenen Dialekt Napulitano zelebriert. Begleitet von Gitarre und
Mandoline, singt sich Irene Scarpato in eine elegante Intimität.
Was man fast für Bel Canto halten könnte, bleibt aber stets volkstümlich –
vor allen Dingen in seinen Skalen. Was hüben wie ein Candlelight klingt,
wird drüben, in der Hand der Franco-Griechin Dafné Kritharas in voluminöse
Gravitas übersetzt – doch: In den Harmonienfolgen, den eingesetzten
Tonleitern, sind sich die präsentierten Traditionen Griechenlands und
Süditaliens sehr nah. Das Mittelmeer war eben Raum des Austausches – auch
wenn der Seegang oftmals straff ist.
Der Kulturaustausch, der hier seit über 3.000 Jahren belegt ist, ging und
geht nicht spurlos aneinander vorüber. Ganz passend, dass das aktuelle Buch
des Kultur- und Psychoanalytikers Klaus Theweleit „aeiou“ zur Reiselektüre
des Autors gehörte, verfrachtet Theweleit gar die Erfindung unseres
Vokalalphabets auf das Mittelmeer. Denn auf der See, so heißt es da
paraphrasiert, spricht man nicht, da singt man ohnehin.
Die Sounds des Festivals basieren zumindest 2024 immer wieder auf
Hybridisierungen und Kreolisierungen: Alt trifft dann Neu, Italien trifft
auf Griechenland. Oder, wie im Fall der Gruppe PoiL Ueda: Französische
Progrocker gehen Hand in Hand mit einer japanischen Biwa-Spielerin. Das
Ergebnis changiert zwischen der verkopften Zartheit des Math-Rocks, dem
Schamanisch-Rituellen der zitierten buddhistischen Mönchsgesänge – und
etwas vulgärem Losgeschrammel.
## Bass-Lines brummen grimmig
Die 1999 geborene Ana Lua Caiano aus Portugal beschäftigt sich zwar auch
mit Tradition, doch bei ihr sind die Synthetisierungen auch technischer
Natur. Caiano spielt auf allerlei traditionellen Perkussionsinstrumenten –
etwa aus Madeira –, nennt als Inspirationsquellen hingegen die Trip-Hopper
von Portishead und [3][die Avant-Popperin Björk].
Das Ergebnis ist sensationell: In immer neuen Schichten werden Drums und
Beats aufgetürmt, Bass-Lines brummen grimmig dahin, die Stimme der
jazz-studierten Caiano ist wütend, kämpferisch, voranschreitend. Sie singt
allein im Kanon, harmonisiert über die Loop-Funktion mit sich selbst. Wie
sie portugiesisch-rurale Volkslieder als Wegmarken nutzt, erinnert
bisweilen an die Flamenco-Revolution, die [4][der heutige Superstar
Rosalía] losgetreten hat. Bemerkenswert: Caiano zitiert nicht den bekannten
Fado, sondern beschäftigt sich mit ausschließlich oral-tradierten Gesängen
aus den letzten 200 Jahren.
Damit sticht die junge Portugiesin unter vielen guten Acts heraus – zu
gefallen wissen auch die syrischen Postpunk-Bands und marokkanischen
FLINTA*-Rap-Duos. Relativ schnörkellos und ohne Piefigkeit kann man auf dem
Babel kulturelle Erkundungsfahrten durch die Welt machen. Doch es könnte
die letzte Ausgabe hier im alten Zuckerkontor gewesen sein, denn
Staatspräsident Macron persönlich will an die Stelle des alten
Docks-des-Suds eine Filmhochschule bauen lassen. Festivalchef Oliver Rey
bleibt optimistisch: „Wir werden dann halt einen anderen Ort finden, der
Marseille emblematisch repräsentiert.“
5 Apr 2024
## LINKS
[1] /Andere-Form-von-Tourismus-in-Marseille/!5851440
[2] /Festival-Babel-Music-in-Marseille/!5921868
[3] /Bjoerk-Konzert-in-Hamburg/!5974839
[4] /Konzert-von-Rosalia-in-Berlin/!5896681
## AUTOREN
Lars Fleischmann
## TAGS
Marseille
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Schwerpunkt Türkei
Marseille
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