# taz.de -- Frauen in der Naturwissenschaft: Lise Meitner und der Nobelpreis | |
> Physikerin Lise Meitner wurde 1945 der Nobelpreis „gestohlen“. Was sagt | |
> das über die soziale Organisation von Wissenschaft aus? Eine | |
> Rekapitulation. | |
Bild: Lise Meitner (links) mit Louise Schröder im Jahr 1957, anlässlich der V… | |
Der Nobelpreis gilt als der Oscar der Wissenschaft. Während jedoch in | |
Hollywood der Preis in den Kategorien Hauptdarsteller und Hauptdarstellerin | |
verliehen wird, haben Wissenschaftlerinnen einen verschwindend geringen | |
Anteil an den Nobelpreisen. Folgt daraus, dass Wissenschaftlerinnen nicht | |
so gute Forschung betreiben und deswegen auch nicht so erfolgreich sind wie | |
ihre männlichen Kollegen? | |
Nobelpreise sind das Symbol schlechthin für Leistung und Ansehen in der | |
Wissenschaft. Dieses enorme Prestige geht Hand in Hand mit dem weithin | |
gehegten Glauben, ihre Träger seien die besten Wissenschaftler:innen | |
der Welt. Was sagt das über die [1][soziale Organisation von Wissenschaft] | |
aus? Inwieweit waren die Beiträge der Laureaten allein das Ergebnis großer | |
Begabung und harter individueller Arbeit? | |
Für die führenden Anwärter stellte sich oft gar nicht die Frage, ob sie den | |
Nobelpreis bekommen, sondern wann. Albert Einstein war sich offenbar so | |
sicher, den Preis zu erhalten, dass er das damit verbundene Preisgeld | |
bereits zwei Jahre vor dessen tatsächlichem Erhalt in seine | |
Scheidungsverhandlungen einbrachte. Für Barbara McClintock hingegen hätte | |
sich dieses kühne Kalkül als zu gewagt erwiesen: Für das 1948 von ihr | |
entdeckte Transposon erhielt sie den Nobelpreis erst 35 Jahre später. | |
## Eine Kontroverse, die bis heute polarisiert | |
Kaum eine Nobelpreisverleihung hat die Gemüter so sehr erhitzt wie die an | |
[2][Otto Hahn] – ohne Lise Meitner zu berücksichtigen. Die einseitige | |
Würdigung für die Entdeckung der Kernspaltung löste eine Kontroverse aus, | |
die bis heute nicht nur die Wissenschaftsgeschichte polarisiert in | |
diejenigen, für die außer Frage steht, dass wissenschaftlich Hahn allein | |
die Würdigung zustand, und in jene, die Margret Rossiters Auffassung | |
teilen, dass es sich um den wohl berüchtigtsten Diebstahl eines | |
Nobelpreises handele. | |
Seit 1934 hatten Meitner und Hahn gemeinsam mit Fritz Straßmann | |
radiochemisch und kernphysikalisch am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für | |
Chemie geforscht und nach Transuranen gesucht, bis zu Meitners dramatischer | |
Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Schweden im Juli | |
1938. Fünf Monate später, am 17. Dezember 1938, gelang es Hahn und | |
Straßmann die Fraktionierung auszulösen und mit radiochemischen Methoden | |
nachzuweisen. | |
Umgehend informierte Hahn Meitner darüber; diese legte am 16. Januar 1939 | |
zusammen mit ihrem Neffen Otto Robert Frisch die erste | |
physikalisch-theoretische Erklärung der Kernspaltung vor, die einen Monat | |
später veröffentlicht wurde. Im Oktober 1945, fünf Monate nach der | |
Kapitulation der deutschen Wehrmacht, wurde Otto Hahn dafür rückwirkend der | |
Nobelpreis für Chemie 1944 zugesprochen. Zu diesem Zeitpunkt war er noch | |
zusammen mit weiteren deutschen Kernforschern in England interniert. | |
## Teil der zu verdrängenden Vergangenheit | |
Wieso wurde Meitner nicht berücksichtigt? Abgesehen von der | |
wissenschaftlichen Leistung wären die vom NS-Regime verfolgte jüdische | |
Kernphysikerin Meitner und der im Dienste desselben Regimes stehende | |
Radiochemiker Hahn das naheliegendere Nobel-Tandem gewesen, mit einem | |
Nobelpreis in Chemie und einem in Physik. Es hätte ein starkes politisches | |
Signal in dieser angeblichen „Stunde null“ sein können. Fehlende | |
wissenschaftliche Leistung lag dieser Entscheidung gegen Meitner definitiv | |
wohl nicht zugrunde. Lise Meitner wurde von 1937 bis 1965 insgesamt 48 Mal | |
für den Nobelpreis nominiert. | |
Wichtig in Darstellung und Analyse der Forschungserfolge von | |
Wissenschaftler:innen sind Erinnerungs-Frameworks. Und in der gängigen | |
Version dieser Geschichte ist Otto Hahn Hauptdarsteller und Lise Meitner | |
bestenfalls Nebendarstellerin. Eine wenig beleuchtete Rolle spielen dabei | |
die politischen Umstände und Bedingungen, das tritt im unterschiedlichen | |
Umgang von Lise Meitner und ihren Kollegen mit der NS-Vergangenheit | |
deutlich zutage. „Das ist ja das Unglück von Deutschland, dass Ihr alle den | |
Maßstab für Recht und Fairness verloren hattet,“ schreibt Meitner 1945 an | |
Hahn. | |
Darin lag für Meitner auch begründet, warum Hahn nicht den Eindruck | |
korrigiert hat, er sei der alleinige Entdecker der Kernspaltung. Im | |
Anschluss an Hahns Nobelpreisverleihung im Dezember 1946 schrieb Meitner an | |
James Franck: „Nur die Vergangenheit vergessen und das Unrecht hervorheben, | |
das Deutschland geschieht. Und da ich ja ein Teil der zu verdrängenden | |
Vergangenheit bin, hat Hahn in keinem der Interviews, in dem er über seine | |
Lebensarbeit sprach, unsere langjährige Zusammenarbeit oder auch nur meinen | |
Namen erwähnt.“ | |
## Die wahren Entdecker der Kernspaltung | |
Hahns Version wurde von Anfang an durch das wirkmächtige Zusammenspiel | |
zweier Elemente befördert: sein Schweigen und seine Inszenierung von | |
Meitner als „Mitarbeiterin“. Letzteres war ebenso falsch, wie beleidigend. | |
Am wichtigsten war jedoch, dass Hahn selbst nie den Eindruck korrigiert | |
hat, die Entdeckung der Kernspaltung sei allein sein Erfolg gewesen. Im | |
Gegenteil, im „Memorandum deutscher Atomwissenschaftler zum Uranverein“, zu | |
dessen Unterzeichnern er am 7. August 1945 gehörte, wird betont, bei der | |
Kernspaltung handele es sich um eine „rein chemische Entdeckung“, an der | |
Meitner „selbst nicht beteiligt“ gewesen sei, da sie „bereits ein halbes | |
Jahr zuvor Berlin verlassen“ habe. Die Gründe ihrer „Abreise“ werden mit | |
keinem Wort erwähnt. | |
Zu den prominenten Verfechtern dieser Sichtweise gehörte auch Carl | |
Friedrich von Weizsäcker, der nach 1945 stets für sich selbst die | |
Deutungshoheit über die Arbeit an der „Uranmaschine“ beansprucht hat. | |
Gleichwohl forderte er in dieser Kontroverse noch 1997, „keine | |
Geschichtsklitterei“ zu betreiben. | |
Das Gegenlager führte demgegenüber an, dass Hahn zwar die Experimente zur | |
Separierung und Isolierung der Spaltprodukte ausgeführt habe. Es seien | |
jedoch Meitner und Frisch gewesen, die den Prozess als Kernspaltung erkannt | |
und richtig interpretiert hätten. Daher seien sie die wahren Entdecker der | |
Kernspaltung. | |
## Die Existenz von Schwarzen Löchern | |
Die grundsätzliche Frage zu diesem Fall lautet: Was hat das für die | |
Entwicklung von Wissenschaftlerinnenkarrieren in der Nachkriegszeit | |
bedeutet? Hätte Lise Meitner 1945 den Nobelpreis erhalten, wäre vielleicht | |
knapp 30 Jahre später die nächste Kontroverse beim Nobelpreis für Physik | |
anders verlaufen. | |
Die britische Radioastronomin Jocelyn Bell Burnell hatte ab 1965 das | |
Interplanetary Scintillation Array, ein Radioteleskop vor den Toren | |
Cambridges, mitentwickelt, mit dem sie 1967 die ersten Pulsare | |
beobachtete. Eine Entdeckung, durch die sich die Sicht auf das Universum | |
veränderte, da sie die Existenz von Schwarzen Löchern plötzlich sehr viel | |
wahrscheinlicher erscheinen ließ und Einsteins Gravitationstheorie weiter | |
untermauerte. | |
Vielleicht hätte das Nobelpreiskomitee 1974 zumindest auch sie für diesen | |
Durchbruch in der Radioastronomie ausgezeichnet und nicht nur ihren | |
Doktorvater Antony Hewish. Bemerkenswert ist dabei die Argumentation der | |
jeweiligen Zuschreibungsprozesse. Diente im Fall von Hahn und Meitner 1945 | |
als Erklärung, dass Hahn die Kernspaltung allein entdeckt und Meitner diese | |
ja nur interpretiert habe, so war es bei Bell Burnell und Hewish exakt | |
umgekehrt. | |
## Unverständnis über den Diskurs des vereinzelten Genies | |
Auf Grundlage der heutigen Quellenlage ist ersichtlich, dass Lise Meitners | |
Nichtberücksichtigung bei der Nobelpreisvergabe von zahlreichen | |
nichtwissenschaftlichen Faktoren beeinflusst worden ist. Die Öffnung des | |
Stockholmer Archivs der Nobelstiftung 1974 gestattet eine tiefergehende | |
historische Forschung in diesem Kontext, durch die interne Querelen zutage | |
treten und verdeutlichen, dass soziale Praxis und zeitgeschichtlicher | |
Kontext untrennbar mit dem Prozess der Erzeugung wissenschaftlicher | |
Erkenntnisse zusammenhängen. | |
Harriet Zuckerman und Robert K. Merton haben seit den 1960er Jahren auf die | |
Kollektivität wissenschaftlicher Prozesse und Erfolge hingewiesen wie auch | |
auf die Problematik von Zuschreibungsprozessen beziehungsweise Autorschaft, | |
insbesondere für Wissenschaftlerinnen. Auch Christiane Nüsslein-Volhard, | |
die erste und bislang einzige deutsche Wissenschaftlerin, die 1995 – | |
zusammen mit Eric Wieschaus – den Nobelpreis in Medizin bekam, äußerte | |
Unverständnis über den Diskurs des vereinzelten Genies. „Ich weiß nicht, | |
wie die Männer das hinkriegen. Die Preise allein zu kassieren und nicht bei | |
jedem dritten Satz zu sagen: Ja, aber Lise Meitner hat das auch | |
mitgemacht“, so Christiane Nüsslein-Volhard. | |
Ein Nobelpreis an Lise Meitner hätte bereits 1945 ein Umdenken in der | |
Bewertung wissenschaftlicher Leistungen von Frauen befördern können. Es ist | |
anzunehmen, dass sich Physik, Astrophysik und andere Mint-Fächer nicht so | |
lange als Männerdomänen hätten behaupten können. Frauen blieben | |
Ausnahmeerscheinungen. Seit 1901 wurden ganze fünf Physikerinnen mit dem | |
Nobelpreis ausgezeichnet. | |
7 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Birgit Kolboske | |
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