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# taz.de -- Knallerei und Krieg: Mäuse im Altersheim zu Silvester
> Jedes Jahr gleichen die Städte Kriegsschauplätzen. Da könnten doch gleich
> reale Kriegsgeräusche abgespielt werden – aber bitte am Stadtrand.
Bild: Wird auf der Welt nicht schon genug geschossen und gebombt?
Ausstieg aus dem U-Bahn-Schacht, halb drei in der Silvesternacht. Eine eher
ruhige Gegend in Berlin, aber oben herrscht noch eine Art Krieg. Zwei
Männer schießen Leuchtspurmunition auf Balkone. Die Feuerwehr löscht an
einer Kreuzung einen Brand mitten auf der Straße. An der nächsten Kreuzung
sind Männer mit sicherlich nicht zugelassenen Böllern zugange, selbst mit
Ohropax in den Ohren sind die Explosionen ohrenbetäubend.
Komisch, warum [1][ist es eigentlich immer das Bevölkerungssegment „(sehr)
junger Mann“], das an Silvester die Sau rauslässt? Warum kann man nicht
mal, allein schon für den immer erfrischenden Klischee- und Routinebruch,
zum Beispiel älteren Frauen das öffentliche Feld an Silvester überlassen?
Zivildienst in einem Altenheim bei Hamburg, vor vielen Jahren, Nachtschicht
zu Silvester: Eine Bewohnerin bittet mich in ihr Zimmer, sie hat Angst und
will nicht allein sein. Die Knallerei erinnere sie an die Hamburger
Bombennächte von 1943, wie sie erzählt. Ich reagiere verstört und verlegen
(wenn ich mich recht erinnere), habe ich doch die Jugendjahre zuvor gern
geböllert. Sie erzählt von Nächten im Luftschutzkeller und glaslosen
Fenstern ihrer Wohnung nach der Rückkehr. Durch die Druckwellen der Bomben
war das Glas zerborsten. Zum Glück war es Juli, damals in Hamburg. Wir
trinken Kräuterlikör und essen Lebkuchen, ich gehe um eins.
Im Personalraum sitzt das Personal mit einigen Bewohnerinnen zusammen,
mittendrin knutscht der Zivi-Kollege inzwischen mit einer der Pflegerinnen.
Eine herrliche Stimmung – der Chef ist längst weg, die Mäuse tanzen auf dem
Tisch. [2][Pflegeheime (wie sie inzwischen heißen)] sind besonders zu
Silvester Parallelwelten: Traurige, berührende und schöne Momente liegen
nah beieinander, während draußen Billigsekt aus Plastikbechern getrunken
und mal mehr, mal weniger affektiert das neue Jahr begrüßt wird.
## Junge Männer in Gewerbegebieten
Für den besagten Klischeebruch plädiere ich dafür, ab sofort an Silvester
an den zentralen Plätzen der Republik für die Alten riesige beheizte
Festzelte aufzustellen. Es gibt gutes Essen und Wein, dazu ein tolles
Entertainment-Programm mit Varieté und Livemusik, meinetwegen auch
Schlager. Für die jungen und sehr jungen Männer sind separate Zonen in den
Gewerbegebieten am Rand der Städte ausgewiesen, wo sie aus leistungsfähigen
Konzertboxen aktuellen Kriegsgeräuschen zuhören können.
Das wären praktische Synergieffekte und Effizienzgewinne in Sparzeiten,
denn warum werden hier eigentlich Millionen Euro verballert, während
woanders auf der Welt derzeit genug geschossen und gebombt wird? (Es müsste
mal eine Studie darüber geben, warum eigentlich bundesdeutsche „Sparkurse“
immer einhergehen mit Kriegen; die Agenda 2010 und der Irakkrieg fielen
auch zeitlich zusammen.)
Für die Postkolonialismus-Studenten und Hamas-Rechtfertiger lädt der
Audiobereich „Qassam-Rakete“ zum Verweilen ein, unterbrochen von
Greta-Thunberg-Reden und vorgelesenen [3][Judith-Butler-Aufsätzen]. In
sicherer Entfernung kann dem Audio-File „Sturmgewehr TAR 21, israelische
Armee“ gelauscht werden.
## Themenbereich Ukrainekrieg
An einer anderen Ecke der Stadt hat der Themenbereich „Ukrainekrieg“ seine
Pforten geöffnet. Stargäste im Sektor „Ukraine“ sind Marie-Agnes
Strack-Zimmermann und Marieluise Beck. Aus den Boxen der Sound von
Stinger-Raketen. Den Putin-Affinen wird, natürlich, ein eigener Sektor
geboten, mit einer raffinierten compilation aus nordkoreanischem
Artillerie- und russischem Panzerfaust-Audio. Gegen Entgelt können an
Waffenattrappen die Bewegungsabläufe synchron zu den Schüssen nachgespielt
werden. Für die ganz Harten oder politisch Indifferenten wird eine extended
mix version aus beiden Kriegen und von allen Kriegsparteien gespielt.
Es sind nicht nur Synergieeffekte, die zwingend für dieses Modell sprechen:
Damit wäre auch das merkwürdige journalistische Sub-Genre
„Silvesterberichterstattung“ mit Live-Tickern, die sich wie
Kriegsberichterstattung lesen, überflüssig. Und ich komme bei den
Seniorinnen vorbei, ganz sicher.
6 Jan 2024
## LINKS
[1] /Bilanz-der-Silvesternacht-in-Berlin/!5979474
[2] /Pflegerinnenmangel-in-Heimen/!5700955
[3] /Ueber-Philosophy-for-Palestine/!5969264
## AUTOREN
Gunnar Hinck
## TAGS
Kolumne Der rote Faden
Silvesterknallerei
Silvesterknallerei
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Silvester
antimuslimischer Rassismus
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