Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Anstand unter Grünpflanzen
> Manche Weihnachtsbräuche können ihren zwielichtigen Ursprung einfach
> nicht verleugnen, so wie das schwer traditionelle Küssen unter dem
> Mistelzweig.
Küsse unter dem Mistelzweig in der Weihnachtszeit sind in Irland etwas aus
der Mode gekommen. Manche behaupten, es sei gar keine irische Tradition.
Erstens sei die Halbschmarotzerpflanze aus dem Ausland eingedrungen –
vermutlich aus England, von wo aus viele Parasiten über Irland hergefallen
sind. Und zweitens sei auch das Küssen an sich eine ausländische Unart, die
von den Normannen im 12. Jahrhundert in Irland verbreitet worden sei.
Das Mistelzweigküssen ist mit Sicherheit von einem Mann erfunden worden,
und zwar inklusive eines vermeintlichen Druckmittels: „Wenn ein Mädchen
nicht unter dem Mistelzweig geküsst wurde, würde sie nicht geheiratet
werden“, hieß es. In Wirklichkeit geht es darum, unter dem Deckmantel der
Tradition straffrei eine Frau zu küssen, weil sie sich zufällig unter einem
Grünzeug aufhält.
In Irland war das früher keineswegs straffrei, jedenfalls nicht für Frauen.
Im Oktober 1937 wurden ein Mann und eine junge Frau in dem Städtchen
Blackrock in der Grafschaft Louth nördlich von Dublin beim Küssen in der
Öffentlichkeit ertappt. Für Richter Goff war das eine gute Gelegenheit, ein
gerade verabschiedetes Gesetz anzuwenden: „Wer an einem Ort, zu dem die
Öffentlichkeit Zugang hat, durch sein Benehmen die Sittsamkeit verletzt
oder einen Skandal auslöst, ist schuldig.“
Richter Goff argumentierte, der Knabe sei unbescholten, da er „ein oder
mehrere Getränke zu viel intus“ hatte. Er wurde freigesprochen, nachdem er
zwei Pfund an eine Wohltätigkeitsorganisation gespendet und die
Gerichtskosten bezahlt hatte.
Anders sah es bei der jungen Frau aus. Julia Clarke sei vollkommen nüchtern
gewesen, erklärte der Polizist, der als Zeuge geladen war. Goff fragte:
„Welche Art von Mädchen ist sie dann bloß?“ Er verurteilte sie wegen
„Unanständigkeit an einem öffentlichen Ort“ zu einem Monat Gefängnis. Go…
hatte dabei einen Hintergedanken. Er wollte solch lose Frauenzimmer aus
Irland fernhalten. Da er wusste, dass Clarke in Schottland wohnte,
kalkulierte er, dass sie nie mehr nach Irland zurückkehren würde, da sie
sonst ins Gefängnis müsste. Das Urteil war praktisch eine Verbannung.
Der Schuss ging nach hinten los. Zwar untersagte Goff den irischen Medien,
über das Urteil zu berichten, aber die ausländische Presse hatte längst
Wind von der Sache bekommen und schrieb hämische Kommentare über die
rückständige kleine Insel. Eine englische Nachrichtenagentur filmte Clarke,
wie sie einen Mann küsste, während ein Sprecher den Fall genüsslich
ausbreitete. Zwar war das Filmchen nur sehr kurz, aber es richtete
erheblichen Schaden für den Ruf Irlands an. Die verurteilte Verbrecherin
war zum Filmstar geworden.
Also, liebe Leserinnen: Fröhliche Weihnachten, aber seien Sie wachsam, wenn
zufällig eine Grünpflanze über Ihnen hängt.
18 Dec 2023
## AUTOREN
Ralf Sotscheck
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Irland
Weihnachten
Pflanzen
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Schwerpunkt Korruption
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Im Schleichgang durch Dublin
Der grüne Umweltminister macht die irische Hauptstadt mit seinen
verblüffenden Maßnahmen zur langsamsten Stadt der Welt neben London.
Die Wahrheit: Teufelsmutter mit Hoden
Hatte Lenin wirklich sechs jungfräuliche Töchter, denen in Killiney, einem
Vorort von Dublin, die Church of the Daughters of Léinín gewidmet ist?
Die Wahrheit: Geschenkter Gaul mit Klopapier
Wenn beim „Kriskindle“ die Geschenke lang vergangener Weihnachtstage wieder
auftauchen, ist ganz Irland nach dem Fest zum Umtausch unterwegs.
Die Wahrheit: Comeback des Killerfischs
Die Renaissance des Räucherherings kündigt sich. In den siebziger Jahren
war der „Kipper“ unbedingt notwendiger Bestandteil des englischen
Frühstücks.
Die Wahrheit: Bingo ist nichts für Angsthasen
Die Ente mit zwei Füßen? Die dicke Frau? Bingo funktioniert mit
Geheimcodes, und kann durchaus in Schlägereien ausarten. Wie hier zu
beweisen war.
Die Wahrheit: Bono und der durchgeknallte Ire
Einer der gerissensten Wirrköpfe Irland ist tot. Und damit ist kein
Mitglied der katholischen Blaskapelle U2 gemeint.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.