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# taz.de -- Die Wahrheit: Der gerade Turm von Pisa
> Eine italienische Bürgerini findet endlich die Lösung gegen den
> Übertourismus.
Die folgende Geschichte handelt von der Stadt Pisa und dem dort
befindlichen Turm (auch als „Schiefer Turm von Pisa“ bekannt). Nachdem
jahrhundertelanges Bestreben, den Turm wieder gerade zu rücken, bislang
stets an der umtriebigen Tourismusindustrie gescheitert war, gibt es nun
neue Hoffnung in Form von Bürger:inneninitiativen, die sich im überbildeten
Pisa (Pisa-Schüler:innen werden im Bildungswettbewerb immer noch weltweit
als Vergleich herangezogen) aus Liebe zur Geometrie ge-, ja, doch: -bildet
haben. Und zwar soll das Problem des Pisa beherrschenden Overtourism
dadurch begangen werden, dass der Turm wahlweise geschliffen, doch noch
gerade gerückt oder einfach auf A5 vorgerückt wird (Ta1-a5! #). Oder, was
die radikalste Lösung wäre, der berühmteste schiefe Turm von Pisa – in Kö…
stand auch mal einer, das hatte mit der U-Bahn zu tun – wird für die
Touristenmassen einfach komplett freigegeben: Und innerhalb kürzester Zeit,
so die Prognose, würde der bislang elfenbeinweiße Turm zugetaggt,
vollgemüllt und durch die Schwerkraft weiter Richtung Erdboden
niedergetrampelt werden. Denn so ist er, der Tourismus in seiner extremsten
Form, dem Übertourismus: Er macht alles zunichte und gleichzeitig zu Gold;
das macht ihn ja so gefährlich.
Nun haben noch ganz andere Städte alles Mögliche versucht, mit dem Problem
des Massentourismus fertig zu werden. Venedig nimmt Eintritt, Amsterdam hat
sich Schnitzeljagden ausgedacht, die die Touristen durch entlegene Vororte
fernab der üblichen touristischen Pfade führen sollte, New York rief nach
Flugzeugen, Moskau nach Drohnen. Auch Berlin hat einiges probiert: erst die
Mauer, dann der nicht fertig werdende Flughafen, schließlich wurde das
Wahrzeichen, das Brandenburger Tor, bunt bepinselt … Genützt hat es nicht
viel.
Und noch immer kippen schippernde Hochzeitstorten von der Größe mehrerer
Kleinstädte ihre Passagiere über schöne, meerseitig gelegene Orte mit
tollen Sehenswürdigkeiten aus, nur um diese lieblichen Orte im Anschluss
ausgenutzt und verbraucht wieder zu verlassen – wer muss da nicht an
traurige Liebesgeschichten denken! Traumschiff ohne Happy End!
Auch deshalb haben sich die empörten und vom ewigen Rollkofferlärm
genervten Einwohner der Innenstadt von Pisa – ja, die gibt es – zu mehreren
Inis zusammengeschlossen, um dem wachsenden Übel Herr, Frau und Divers zu
werden. Die größte Gruppe ist die „Bewegung 6. Januar“ – im italienisch…
Original: Movimento dell’Epifania –, die eine Zeitlang durch
Wandkritzeleien mit Kreide auf sich aufmerksam machte und ein verschrobenes
Dreigestirn an ihre Spitze setzte, sich im Wesentlichen aber auf den 6.
Januar 1990 bezieht, dem letzten Tag, an dem Touristen freien Zugang zum
Turm erhielten. Insofern ist die Bewegung eigentlich eine widersprüchliche,
da Zugangsfreiheit zum Turm ihr ursprüngliches Ziel war. Aber nach Rom
führen bekanntlich mehrere Wege, und die Gottes sind eh unergründlich, auch
wenn man das in Pisa gar nicht gerne hört.
Die zweite Initiative von Relevanz ist die der „Geraden Bürger“, die einen
roten Stern mit Zirkel und Geodreieck als Symbol trägt und logischerweise
von Mathelehrern gegründet worden war. Ihnen ist der schiefe Turm von jeher
ein Dorn im Auge oder eben ein schiefer Turm. „Da läuft vieles schief in
Pisa“, so ihre nicht ganz gerade Parole. Die wahren Mathematiker spalteten
sich jedoch 2014 als „Figli de Fibonacci“ (FdF) von den „Geraden Bürgern…
ab. Warum auch immer.
## Monte Croce
Apropos Spaltung: Auch auf der Linken tat sich was – der Name „Monte Croce�…
verrät den Berliner Ursprung dieser wiederum von der „Bewegung 6. Januar“
abgespaltenen Initiative. Hier haben sich aus Deutschland zurückgekehrte
Pisaner Hipster zusammengefunden, um gegen die fortschreitende
Gentrifizierung ihrer Heimatstadt zu protestieren. Der Turm ist ihnen das
rechte Symbol für den Niedergang ihres Städtchens, das immerhin 90.000
Einwohnende zählt.
Sie alle sind sehr unterschiedlich, wie alles. Aber sie alle vereint, dass
sie die Bilderschwemme von Leuten, die sich für die immer gleichen Fotos in
200 Metern Entfernung vermeintlich an den Turm lehnen, ihn mit einem Finger
gegen die Schwerkraft halten oder als Phallus zwischen gespreizten Beinen
stehen lassen, nicht mehr sehen können. Sie alle wollen eine freie Stadt.
Eine tourismusfreie Stadt!
Nun hat Pisa tatsächlich die besten Voraussetzungen, um mit dem Problem des
alles niedermachenden Großtourismus dauerhaft fertig zu werden: Denn im
Grunde kommen alle immer nur wegen dem Turm oder des Turmes. Niemand will
den Dom sehen, so „geostet“ und nah er auch ist. Niemand interessiert sich
für den Hafen, der längst versandet ist, oder den dritten Papst, den nach
einem Wahrheits-Kolumnisten benannten Fluss oder den himmelschreienden
Flughafen „Galileo Galilei“. Das Meer wurde ja schon vor Urzeiten aus Pisa
vertrieben. Was immer und ewig bleibt, ist der Turm – und dumme Geologen,
die versuchen, ihn durch Erdbearbeitung zu stützen. Und dumme
Tourismusminister, die versuchen, ihn durch Aussperrung zu schützen. Das
soll jetzt finalmente ein Ende haben.
## No torre
„Pisa wird wieder frei! Für ein freies Pisa! Der Turm muss weg!“, so die
Parole von zum Beispiel Leonardo Scola, einem der führenden Mathematiker
der FdF, dem sich Tausende angeschlossen haben. No torre = no turismo!, so
die Gleichung. Ob sie aufgeht?
Die Entscheidung jedenfalls naht. Gefragt sind nicht die Bürger:innen
von Pisa, sondern zwei vom Stadtrat per Losverfahren ausgewählte
Schülerinnen (wegen s. o.) namens Pia und Lisa, die die ganze Stadt
vertreten und bis Ende des Schuljahres beim Abitur eine einstimmige
Entscheidung treffen sollen. Man nennt es den „Pisa-Test“: Schleifen oder
Rückbau? Wie werden sie sich entscheiden? Wie man hört, favorisieren die
beiden Musterschülerinnen in diesem nach Multiple-Choice-Prinzip gebauten
Fragebogen Lösung C, die auch den „Geraden Bürgern“ gefallen dürfte:
Einfach aufrichten, den Turm. Dann wird er so uninteressant, dass nur noch
wenige kommen. Mit denen wird man dann schon fertig. Nie wieder Insta!
Andere mögliche Antworten zirkulieren um die Kauf- und Abtransportidee
chinesischer und saudischer Oligarchen. Während Lisa und Pia also in einem
geschlossenen Raum, gewissermaßen einem Turmgemach, über ihre Antworten
brüten, fragt sich die restliche Welt: Kann man von Pisa lernen und wenn
ja, was? Wie wäre ein Köln ohne Dom? Ein Venedig ohne Kanäle? Rom ohne
alles? Berlin ohne Brandenburger Tor? Potsdam ohne Schloss? München ohne
Hofbräuhaus? Bielefeld ohne … äh, andere Geschichte. Die Ideen sind
jedenfalls da, man muss sie nur noch umsetzen …
4 Nov 2023
## AUTOREN
René Hamann
## TAGS
Die Wahrheit
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Kolumne Die Wahrheit
Schwerpunkt Coronavirus
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