# taz.de -- Demokratieaktivistin über Hamas-Terror: „Wir sind zu spät aufge… | |
> Shikma Bressler ist eine wichtige Stimme der israelischen | |
> Demokratiebewegung. Wie blickt sie auf den Terror? Und was erwartet sie | |
> für die Zukunft? | |
Bild: Die Physikerin Shikma Bressler gehört zu den zentralen Akteuren der Prot… | |
wochentaz: Frau Bressler, wie fühlen Sie sich? | |
Shikma Bressler: Furchtbar. Unsagbar traurig. Und unsagbar wütend. Wir | |
protestieren seit fast einem Jahr und warnen, dass nichts in diesem Land | |
funktioniert, dass die Regierung sich nicht kümmert. Und dass dies auch das | |
Land bedroht. Aber wir haben uns nicht vorstellen können, dass die | |
Situation so schlimm ist. Wir sind zu spät aufgewacht und haben nicht | |
erkannt, wie tief das Problem sitzt. Für die Menschen im Süden Israels nahe | |
der Grenze zu Gaza war es zu spät. Wir hätten das Land schon vor fünf | |
Jahren retten sollen. Dann wären wir nicht in diese Situation geraten. | |
Was meinen Sie damit? | |
Wir wissen schon seit vielen Jahren, dass Minister auf der Grundlage | |
persönlicher Loyalität zu Netanjahu und nicht zur israelischen Gesellschaft | |
ernannt werden, dass Leute ohne jegliche Fähigkeiten und Fachwissen | |
wichtige Positionen bekommen. Der Schaden war schon vor der jetzigen | |
Regierung so tief. Und im vergangenen Jahr hat sich alles so schnell | |
beschleunigt. Wir hätten das vielleicht früher begreifen sollen. Vielleicht | |
würden sich dann die Menschen in der schlimmsten Zeit ihres Lebens | |
wenigstens nicht vom Land im Stich gelassen fühlen. | |
Die Reservesoldat*innen, die ihren Dienst angesichts des geplanten | |
Staatsumbaus verweigert hatten, sind zurück im Dienst. Ist das Land nach | |
dem Angriff wieder vereint? | |
Wir alle wissen, dass wir von außen angegriffen wurden, und dass wir | |
kämpfen und gewinnen müssen. Es steht außer Frage, dass das Land in dieser | |
Frage geeint ist, aber das löst nicht den Konflikt, den wir vorher hatten. | |
In den sozialen Medien lese ich, dass die meisten Soldat*innen jetzt | |
ihre eigene Agenda beiseiteschieben. Aber ich bin nicht dabei, also kann | |
ich das nicht verifizieren. Umfragen zeigen, dass die Unterstützung für | |
Netanjahu implodiert ist. Die allermeisten Israelis denken, dass es im | |
Grunde an ihm liegt, was jetzt passiert ist. Und an der Armee. Aber | |
natürlich wirkt auch Netanjahus Vergiftungsmaschinerie noch gut. Schauen | |
Sie sich nur unseren „Kanal 14“ an, der nur die Spitze des Eisbergs des | |
gesamten Fake-News-Systems ist. Rund 8 Prozent der Israelis bekommen daher | |
ihre Informationen. Und dort hört man, dass die Linken an alldem schuld | |
sind und dass sie die Leute verraten haben. Der Sender gehört einem von | |
Netanjahus Anhängern. Und das ist wirklich nur ein kleiner Teil dessen, was | |
in den sozialen Medien kursiert. | |
Geben auch Sie Netanjahu die Schuld für das, was passiert ist? | |
Ich mache die Hamas für den Terrorangriff verantwortlich. Von Anfang bis | |
zum Ende. Sie sind die Ungeheuer hier, die uns in IS-Manier angegriffen | |
haben. Aber darüber hinaus denke ich, dass wir uns ansehen müssen, wie wir | |
reagiert haben, also das Militär und die Geheimdienste. Die gesamte | |
Vorstellung davon, wie man diese Gebiete im Süden verteidigen kann, ist im | |
Grunde zusammengebrochen. Wir hatten eine eigene Ministerin für | |
Nachrichtendienste, Gila Gamliel – aber was war ihre Rolle? Sie hat nichts | |
mit Geheimdiensten zu tun, verfügt über keinerlei Fachwissen. Wie zum | |
Teufel konnte Netanjahu sie für diese Rolle nominieren? Und wo bleibt die | |
interne Kritik daran, wenn niemand diese Fragen stellt? | |
Das hat keiner getan? | |
Der Einzige, der irgendwann einmal gesagt hat, dass der geplante | |
Staatsumbau das Land bedroht, war Verteidigungsminister Joaw [1][Galant – | |
und der wurde dafür gefeuert, dass er das gesagt hat]. Jetzt sehen wir, wie | |
schlecht das Land funktioniert. Also für die Reaktion gebe ich Netanjahu | |
die Schuld, denn er hat das ganze System verkommen lassen. | |
[2][Benny Gantz ist mit seiner zentristischen Partei einer | |
Notstandsregierung beigetreten.] Das könnte in gewisser Weise Netanjahus | |
Position stärken. Wie schätzen Sie das ein? | |
Netanjahu ist eindeutig nicht in der Lage, diesen Krieg allein zu führen. | |
Aber er wird, das ist völlig klar, seinen Posten nicht aufgeben, weil das | |
alles ist, woran er überhaupt interessiert ist – um seine eigene Zukunft zu | |
sichern. Deshalb ist es besser, dass gute Leute mit der richtigen Erfahrung | |
und Expertise neben ihm stehen. Aber das hat eine sehr seltsame Situation | |
geschaffen: Wir haben jetzt zwei Kabinette, eines mit normalen Leuten und | |
eines mit verrückten Leuten. | |
Zwei Kabinette? | |
Ja, ein Kriegskabinett, in dem Netanjahu, Gantz und Galant sitzen. Und | |
parallel dazu das reguläre Kabinett, in dem auch Bezalel Smotrich und | |
Itamar Ben Gvir sitzen. Das Einzige, was sie gemeinsam haben, ist der | |
Ministerpräsident, dem niemand traut und den niemand für fähig hält. Was | |
kann dabei schon Gutes herauskommen? Es geht gerade um die Entscheidung, ob | |
unsere Söhne, Ehemänner und Brüder nach Gaza geschickt werden. Und wir alle | |
wissen, dass das bedeutet, dass viele von ihnen nie wieder zurückkommen | |
werden. Es ist also besser, dass dort wenigstens ein paar vernünftige Leute | |
sind. | |
Also eine angemessene Lösung? | |
Es ist die beste Lösung unter den schrecklichen Möglichkeiten, die es gibt. | |
Dabei könnte es noch eine brauchbare Möglichkeit geben: Netanjahu könnte | |
gehen, und wir hätten eine normale Regierung. | |
Wir wissen nicht, wie Israel und die ganze Region nächste Woche oder in den | |
nächsten Monaten aussehen werden. Ich frage trotzdem: Wie, glauben Sie, | |
wird es mit der Protestbewegung weitergehen? | |
Der Protest in der Form, in der wir ihn [3][in den vergangenen 40 Wochen | |
geführt haben], ist vorbei. Wir befinden uns in einem Krieg. Wir müssen | |
diesen Krieg gewinnen. Und das ist im Moment das Wichtigste. Wir müssen | |
gewinnen. Und wir werden gewinnen, denn die israelische Gesellschaft hat im | |
vergangenen Jahr und natürlich auch davor bewiesen, dass wir sehr stark | |
sind. Es ist nur unsere Führung, die total verkommen ist. Aber was wir in | |
den vergangenen Tagen gesehen haben, erfordert etwas völlig anderes als die | |
bisherige Protestform. Der Aufschrei der Menschen, die dieses Massaker im | |
Süden überlebt haben, die Soldat*innen, die ihre Freund*innen sterben | |
gesehen haben, Familien, deren Angehörige entführt, vergewaltigt oder | |
getötet wurden, dieser Aufschrei wird alles andere im Land übertönen. Ihre | |
Stimmen sollten gehört werden. Und wir werden für sie da sein. | |
Sie glauben also, dass Netanjahu einfach bleiben wird, die | |
Demokratiebewegung ist zu Ende und alles, was bleibt, ist dieser Schmerz? | |
Der Schmerz ist ja unmittelbar mit dem Verlust der Demokratie verbunden. | |
Demokratie bedeutet ja auch, dass der Staat für die Gesellschaft des Landes | |
da ist. Dieses Land hat auf so vielen Ebenen nicht für seine Bevölkerung | |
gearbeitet – und das ist uns nun auf grausame Weise ins Gesicht geflogen. | |
Man muss nur zuhören, worüber die Leute gerade reden: wie sie vom Land | |
vernachlässigt, im Stich gelassen und verraten wurden. Es geht also um mehr | |
als den jüngsten Terrorangriff. Es geht um alles, wofür wir in den | |
vergangenen Jahren gekämpft haben. Wir müssen nur die richtigen Worte | |
finden, um das zu beschreiben. | |
14 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Konflikt-um-Justizreform-in-Israel/!5927077 | |
[2] /Hamas-Angriff-auf-Israel/!5966013 | |
[3] /Historischer-Gerichtstermin/!5959065 | |
## AUTOREN | |
Judith Poppe | |
## TAGS | |
Israel | |
Benjamin Netanjahu | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
GNS | |
Netanjahu | |
Interview | |
Demokratiebewegung | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Benjamin Netanjahu | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
+++ Hamas-Angriff auf Israel +++: Israel beschließt Notstandsregierung | |
Minister bestätigen die Bildung einer Notstandsregierung. Das einzige | |
Kraftwerk in Gaza ist vom Netz. Hamas und Islamischer Dschihad melden | |
massive Raketenangriffe auf Israel. | |
Angriffskrieg der Hamas gegen Israel: Sieg des Terrors, vorerst | |
Der brutale Angriff der Hamas ist eine Zäsur. Doch er wird Israel trotz der | |
bitteren Verluste weder lähmen noch nachhaltig schwächen. | |
Protest in Israel hält an: Netanjahu verteidigt Justizreform | |
Israels Regierungschef erklärt in einer TV-Rede, der Umbau stärke die | |
Demokratie. Doch Tausende protestieren dagegen, die Polizei begegnet ihnen | |
mit Wasserwerfern. |