# taz.de -- Kriegsalltag in Odessa: Wir küssen uns, wenn wir aufwachen | |
> Die Luftangriffe auf die ukrainische Hafenstadt Odessa und die Angst | |
> hören nicht auf. Aber unsere Autorin versucht auch, das Positive zu | |
> sehen. | |
Bild: Strand von Odessa – „Niemand wird für den Krieg geboren“ | |
Ich haste nach Hause. Zwei Stunden zuvor war über unserem Haus eine | |
russische Rakete abgeschossen worden. Ich habe es in einem Nachrichtenkanal | |
gelesen und weiß nicht, was mich bei der Ankunft zu Hause erwartet. Auf dem | |
Weg dorthin schwirrte mir der Kopf, aber jetzt bin ich da und kann erst mal | |
aufatmen. Meine Wohnung ist noch heil. Aber im Haus gegenüber sind von der | |
Druckwelle alle Fensterscheiben zersplittert, vom Erdgeschoss bis zum | |
fünften Stock. | |
Nach dem [1][massiven Beschuss in den Augustwochen] sind in Odessa mehrere | |
hundert Häuser beschädigt. Kirchen, [2][Architekturdenkmäler, | |
Krankenhäuser, Schulen], Hochschulen, Geschäfte und Museen wurden ganz oder | |
teilweise zerstört. Ich versuche diese zerstörten Gegenden zu umfahren. Es | |
tut mir weh, das zu sehen und zu wissen, wie nah alles mittlerweile ist. In | |
Odessa dachten viele noch lange, dass die Stadt nicht bombardiert werden | |
würde, aber das stimmt nicht. Die Odessiten sammeln jetzt die Trümmer und | |
den Schutt von den Straßen auf, dann gehen sie zur Arbeit. | |
Ich könnte hier darüber schreiben, wie schwer das alles ist. Wie bekannte | |
Dichter und Schriftsteller an der Front sterben, wie meine | |
Journalistenkollegen einberufen werden, um ihr Land gegen die Besatzer zu | |
verteidigen, wie ekelhaft es ist, beim Heulen der Sirenen einzuschlafen, | |
und wie schrecklich es ist, nicht mehr davon wach zu werden. | |
Aber ich möchte jetzt von etwas anderem schreiben. Weil es neben all dem | |
hier noch andere Dinge gibt. Es gibt das Leben, es gibt die Liebe, es gibt | |
Freude und Zärtlichkeit. Jeder Morgen ist zu etwas Besonderem geworden. | |
[3][Wenn die Kinder und ich morgens aufwachen], küssen wir uns, wir umarmen | |
uns häufiger, verbringen mehr Zeit zusammen als früher. Wir leben. | |
Ukrainische Ökologen haben kürzlich erklärt, dass das Meer in Odessa | |
[4][wieder zum Baden freigegeben ist]. In den anderthalb Kriegsjahren war | |
es offiziell gesperrt. Jetzt wurden in einigen Küstengebieten Netze | |
gespannt, um zu verhindern, dass Minen, Granaten und Trümmer [5][nach der | |
Zerstörung des Kachowkastaudamms] im Frühjahr in die Gebiete gelangen, in | |
denen Menschen schwimmen. | |
Ich wurde in Odessa geboren. Wenn ich an den Strand komme, mit den Händen | |
in den Sand fasse, dann scheint es mir, als gebe es nichts Schlimmes auf | |
der Welt. Einmal habe ich am Strand einen Ausspruch gehört, der für mich | |
all das umfasst, was ich zurzeit fühle: „Niemand wird für den Krieg | |
geboren. Wir werden geboren, um Wissenschaftler zu werden, Ärzte, Lehrer, | |
Dichter, Journalisten, wir werden geboren, um an den Strand zu gehen, zu | |
arbeiten, zu reisen – aber niemals für den Krieg, sondern für das Leben.“ | |
Aus dem Russischen von [6][Gaby Coldewey] | |
Finanziert wird das Projekt von der [7][taz Panter Stiftung]. | |
Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der [8][Verlag | |
edition.fotoTAPETA] im September 2022 herausgebracht. | |
14 Sep 2023 | |
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[7] /!v=e4eb8635-98d1-4a5d-b035-a82efb835967/ | |
[8] https://www.edition-fototapeta.eu/ | |
## AUTOREN | |
Tatjana Milimko | |
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