# taz.de -- Bereichernde Stadtbesichtigung: Das polierte Spiegelstück | |
> Ich willigte ein, dem mir kaum bekannten jungen Mann die Stadt zu zeigen. | |
> Und entdeckte sie durch seine Augen neu. | |
Bild: Kein Bild des Besuchs aus der Geschichte, aber Ort und Zeit kommen hin: �… | |
Das größte Geschenk ist es, Personen zu treffen, die dem eigenen Leben | |
einen neuen Spiegel vorhalten. Es ist sonst, als würde man sich selbst | |
jeden Morgen in dem gleichen Spiegelstück betrachten. Dieses Spiegelstück | |
hat eine gewisse Größe, ist durch ein bestimmtes Licht geprägt und hat eine | |
Struktur. Durch diesen Spiegelausschnitt blicken wir auf uns selbst und | |
unser Leben. Und plötzlich trifft man Personen und das Spiegelstück | |
verändert sich. Als würde die Person daran reiben, es putzen und neu | |
polieren. | |
Kinder können das. Durch Reisen passiert es. Und Menschen, die in den | |
eigenen Alltag kommen. | |
Es ist wichtig, diesen Menschen zu begegnen, sie sind das Beste, was uns | |
passieren kann. Der Cousin eines guten Freundes aus Sri Lanka nimmt an | |
einer Fortbildung für zwei Monate in Süddeutschland teil. Ich habe ihn dort | |
kennengelernt und seine unbändige Lust, das Land und das Leben zu | |
entdecken. | |
Mitte zwanzig ist er, voller Pläne. Jedes Wochenende nutzt er, um | |
verschiedene Städte in Deutschland zu bereisen. Als er hört, dass ich in | |
[1][Hamburg] wohne, fragt er mich, ob ich ihm etwas von der Stadt zeigen | |
könne, als er an einem Wochenende auch Hamburg entdecken will. | |
Wir treffen uns an einem Sonntagmorgen an den Landungsbrücken. Eigentlich | |
passt mir der Termin nicht besonders gut. Ich bin noch müde und habe nur | |
ein paar Stunden Zeit. Ich sehe ihn schon von Weitem, wie er an der Brücke | |
steht, mit den Händen leicht das Geländer berührt und auf den Hafen hinaus | |
schaut. Ich rufe ihn, doch zuerst reagiert er gar nicht. Er ist ganz | |
versunken in den Anblick der Elbe. | |
## Auf der Fähre packt er eine Kompaktkamera aus | |
Dann begrüßen wir uns. Wir kennen uns gar nicht besonders gut, aber es ist | |
zu spüren, dass er viel reist, vielen Menschen offen begegnet. Wir nehmen | |
eine Fähre nach Övelgönne. | |
Auf der Fähre packt er eine Kompaktkamera aus, in die ein Film eingelegt | |
ist. Begeistert steht er an der Reling, blickt um sich und macht ab und zu | |
ein Bild. „Es ist besonderer, mit einem analogen Film Fotos zu machen“, | |
sagt er. Das Bild bannt sich auf Film, ohne dass es sich [2][sofort digital | |
äußert]. Sein Fotografieren hat etwas Symbolisches. Für ihn ist hier alles | |
so besonders, dass er den Motiven ein Stückchen Filmabschnitt schenkt. Ein | |
riesiges Containerschiff zieht vorbei. Klick. Ein Bild. | |
Während wir auf der Fähre stehen, sieht er zum Fischmarkt. „Haben die | |
Häuser hier alle Backstein?“, fragt er. „Diese Stadt ist so schön aus ein… | |
Guss gebaut, mit dem Stahl. Sie gefällt mir.“ Von ihm geht eine | |
Begeisterung, ein Leuchten aus. Durch seine Augen entdecke ich die | |
Besonderheiten Hamburgs noch einmal ganz neu. Als wir in Övelgönne | |
aussteigen, bleibt er vor den Holz-Segelschiffen am Steg stehen. Ein Motiv, | |
das ich schon gar nicht mehr wahrnehme, so oft laufe ich daran vorbei. | |
Klick. Er fotografiert die Schiffe. | |
Als wir oberhalb einer Strandbar den schmalen Elbweg an den Häusern | |
vorbeigehen, bleibt er immer wieder stehen und fragt nach. Er macht Bilder | |
von den Rosen, riecht an ihnen, bestaunt die verzierten Türen und alten | |
Fenster. „Leben die Menschen hier wirklich oder machen sie Urlaub?“, fragt | |
er. | |
Es war Regen für den Tag angekündigt, aber er bleibt auf der anderen Seite | |
der Elbe. Als würde die Sonne die Wolken für ihn wegdrücken. Während wir | |
umhergehen, ist der Weg in flirrendes Licht getaucht. Auch ich nehme alles | |
um uns ganz besonders wahr. Als wir die Blumen in den Gärten betrachten, | |
Schiffe vorbeiziehen, vor uns die Kräne, der Strand und die glitzernde Elbe | |
liegt, spüre ich eine neue Dankbarkeit, in dieser Stadt zu wohnen. Ein | |
stilles [3][Glück] im Jetzt. | |
Ein paar Wochen später schickt er mir Abzüge von den Fotos, die er | |
mittlerweile entwickelt hat. Das Material ist körniger, es zeigt den | |
Elbstrand in besonderem Kontrast. In den Bildern spiegelt sich die | |
Begeisterung wider, die auch mein Spiegelstück verändert hat. | |
29 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Nord/Hamburg/!p4651/ | |
[2] /Nervige-Hobbyfotografie/!5694935 | |
[3] /50-Freudenmomente/!5920645 | |
## AUTOREN | |
Christa Pfafferott | |
## TAGS | |
Kolumne Zwischen Menschen | |
Hamburg | |
Reisen | |
Städtereisen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |