Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: O, du shaun-schönes Schaf!
> Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Wunder“ (11): Der wundersame Begriff der
> „Altersattraktivität“ ist ein oller Hut mit schrumpliger Krempe.
Bild: Die zeitlos schöne Kim Novak, heute 90, mit 64 vor einem Starfoto aus de…
Eines vorweg: Das eigene Alter ist nichts, über das man verfügen könnte. 15
ist 15, und 50 ist 50, dagegen helfen auch keine Küchenweisheiten à la „Man
ist nur so alt wie man sich fühlt“. Lebensjahre lassen sich nicht
wegfühlen.
Aber darum geht es gar nicht. Denn Altersattraktivität hat nichts gemein
mit würdelosem Ankämpfen gegen die unheilige Dreifaltigkeit aus
Übergewicht, Bindegewebserschlaffung und Schwerkraft, dem freudlosen
Vorhaben, sein Leben dadurch zu verlängern, dass man jeglichen Genuss aus
ihm verbannt. Wer nicht mehr isst und trinkt, was ihm schmeckt, wer mit dem
Rauchen aufhört, obwohl es ihm Glücksgefühle verschafft, wer sich an –
vorgeblich von der Nasa entwickelten – Zug-, Zieh-, Drück- und
Spreizgeräten quält und an – vermutlich von Händlern zum ehrenwerten Zweck
das Bemessens von Schüttgut entwickelten – eisernen Gewichten zerrt, wer
sich von 30 Jahre jüngeren Yogalehrern, die die Verachtung für ihre
Klienten hinter einem geschäftsmäßigen Dauergrinsen verbergen, zu
Verrenkungen nötigen lässt, die in der Natur nicht grundlos den Wirbellosen
vorbehalten sind – der tut möglicherweise seinen Zellen, Faszien, Därmen,
Bändern und sonstigem Zodderzeug etwas Gutes, aber nicht sich selbst.
Altersattraktivität, um dies klarzustellen, meint nicht: Jünger wirken als
man ist. Sondern mit dem Alter attraktiver werden. Es ist eine Folge des
Alterns, kein Täuschungsversuch.
Wenn es zwischen Mitte 40 und Anfang 50 zu grob unvorteilhaften
Veränderungen des persönlichen Erscheinungsbildes kommt, könnte sich die
Frage stellen, ob es sich dabei lediglich um ein nicht zu vermeidendes
Ärgernis auf dem Lebensweg handelt, oder ob sich die gute, alte Evolution
etwas dabei gedacht hat. Wenn wir uns die Evolution als weltläufige,
geschmackssichere, nicht zu billigen Scherzen neigende ältere Dame
vorstellen – die sie ganz zweifellos ist –, so kann die Antwort nur lauten:
„Ja, natürlich hat sie das!“
## Keine Langeweile beim Canasta-Abend
Die Verkartoffelung und Verschratung, die Schrumpfung und Schrumpelung, die
Verkrümmung und Verwarzung, die allgemeine Verunansehnlichung einstmals
vorzeigbarer Körper und Gesichter – das macht sie, die Evolution, doch
nicht einfach so, aus Langeweile, weil niemand zum Canasta-Abend
vorbeikommt! Sondern weil sie uns etwas damit sagen will, etwa: „Ist gut
jetzt, geben Sie doch bitte den Platz frei!“
Mit der Idee, seinen komfortablen Platz für jemanden freizugeben, der ihn
mehr benötigt oder zumindest mehr damit anfangen kann, hat es der Mensch
bekanntlich nicht so. Er verhässlicht lieber, als dass er geht.
Warum aber gilt das nicht für jeden? Wieso gibt es einerseits Menschen, die
irgendwann aussehen wie Gollum mit Wampe, während andere mit dem Alter
immer attraktiver werden? So wie Sean Connery, der als junger Mann eher
hager, asketisch und spitznasig wirkte, später aber, in seinen Sechzigern,
zum Sexidol geriet? Oder der junge Leonhard Cohen: schmal und schüchtern
wie ein Messdiener, später ein Typ, mit mehr Charisma als in die größten
Konzertsäle der Welt passte? Oder Shaun das Schaf, das mit jeder
Serienfolge noch rassiger und lustiger wurde?
## Keine Notwendigkeit des geckenhaften Gockeln
Die Reihe, die sich mühelos fortsetzen ließe, hat einen ins Auge
springenden Makel: Sie enthält nur Männer. Warum ist das so? Gibt es das
Phänomen, das Wunder der Altersattraktivität bei Frauen nicht? Denken
Frauen, dass die Zeit gegen sie spielt? Meinen sie, sich bestenfalls halten
zu können, nach dem Motto „Wer als ältere Frau schön ist, war es auch als
junge schon“? Nichts davon ist wahr. Denn tatsächlich haben die meisten
Frauen es wohl schlicht nicht nötig, so geckenhaft wie die meisten Männer
zu gockeln. Und sie entwickeln eine andere Art Schönheit im Alter –
raffinierter, hintergründiger, tiefer. Es soll übrigens auch weltweit
einige Männer geben, die das schaffen!
Eine wirklich überzeugende Erklärung sucht die Attraktivitätsforschung aber
bis heute vergebens. Fest steht einzig der Befund, dass jeder zweite Mann
von sich selbst meint, dass er mit dem Alter attraktiver wird – die anderen
glauben, sie waren es schon immer.
Aber auch für diejenigen, die bisher nicht zu den Glücklichen zählten,
denen lebensspäte Schönheit zuteil wird, eröffnen sich gerade neue
Horizonte. Eine demnächst von der Bundesregierung geförderte Form der
Altersattraktivität beruht ungefähr darauf, dass Haushalte, in denen
mindestens zwei Hundertzwölfjährige leben, keine Wärmepumpe einbauen
müssen, sondern wie bisher den Kanonenofen mit Altreifen, ausgedienten
Plastikmöbeln und vollgekackten Windeln aus eigener Produktion beschicken
dürfen. Wäre doch gelacht, wenn das die Bereitschaft der Nachkommenschaft
zur Aufnahme von Oma und Opa in den eigenen Haushalt nicht entscheidend
steigen ließe!
Attraktiv macht sie nicht irgendwelches Blendwerk, ob sie gepflegt und
sportlich wirken und so weiter, sondern das reine Alter, der bloße Fakt,
dass sie so lange durchgehalten haben. Endlich mal was Ehrliches. Denn auf
diese Weise können sich Oma und Opa, wenn für sie im Haus der Kinder das
alte Bett des inzwischen erwachsenen Enkels im Keller links hinten neben
der Abwasserhebeanlage aufgestellt wird, begehrter fühlen als jemals zuvor.
18 Aug 2023
## AUTOREN
Robert Niemann
## TAGS
Schönheit
Körper
Altern
Frauen
Sitzenbleiben
Schrumpfung
Hohenzollern
Die Wahrheit
Berliner Mauer
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Remis im Geschlechterspiel
„Frauen an die Macht!“, lautet eine historische Parole. „Quare, quare,
quare“, fragten da schon die alten Römer und T.C. Boyle hat die Antwort.
Die Wahrheit: Der Sitzsack geht herum
Neueste wissenschaftliche Forschungen zur menschlichen
Nichtfortbewegungsmethode Nummer eins: das Sitzen in seiner ganzen
dramatischen Tragweite.
Die Wahrheit: O ja, Schrumpf ist Trumpf!
Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Wunder“ (14): Vom Zauber der
allgegenwärtigen Verkleinerung aller Wesen, die inzwischen sogar Land und
Boden erfasst.
Die Wahrheit: Unter adligen Erbsen
Vor dem Entscheid zur Rückübertragung von Vermögenswerten an die
Hohenzollern. Ein Insider-Report aus dem Preußen-Haus.
Die Wahrheit: Klammern bis zum Umfallen
Wer kennt ihn nicht: den Klammeraffenblues. Warum ist die Klammer im Pop so
prominent? Versuch, die (Hinter-)Gründe für die Klammer zu finden.
Die Wahrheit: Die Mauer in der Pampa
Vor genau 60 Jahren wurde in Berlin ein Betonbauwerk errichtet. Zunächst
gab es die Absicht, es woanders zu bauen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.