# taz.de -- Expertin über Leben mit Beeinträchtigung: „Es ist ein langer We… | |
> In Niedersachsen hat eine Frau ihr Kind getötet, mutmaßlich, weil es | |
> behindert war. Für Eva Brischke-Bau von der Lebenshilfe ein tragischer | |
> Einzelfall. | |
Bild: Bislang erst selten Alltag: Kinder auf einem barrierefreien Spielplatz | |
taz: Leben viele der Familien mit Kindern mit Behinderung derzeit an oder | |
auch jenseits ihrer Belastungsgrenze, Frau Brischke-Bau? | |
Eva Brischke-Bau: Nein, das glaube ich nicht. Es ist eine schwierige | |
Formulierung, die Sie nutzen. Früher hatte man als Lebenshilfe einen | |
familienentlastenden Dienst, der heißt jetzt familienunterstützender | |
Dienst. Man spricht nicht mehr von Belastung, nur weil man ein Kind mit | |
Beeinträchtigung hat. Durch das Bundesteilhabegesetz ist die Teilhabe in | |
den Fokus gekommen, nicht mehr so sehr die Belastung der Eltern, sondern | |
der Mensch mit Beeinträchtigung und seine oder ihre Möglichkeiten, am Leben | |
in der Gemeinschaft teilzunehmen. Dafür wird aus meiner Sicht schon sehr | |
viel getan. Es gibt eine Vielzahl von Angeboten, die Eltern für ihre Kinder | |
wahrnehmen können. | |
In Hamburg haben sich kürzlich Eltern an die Öffentlichkeit gewandt, weil | |
sie sagen, diese Hilfe fände in der Praxis nicht statt, weil schlicht die | |
Leute dafür fehlen, zum Beispiel bei der Schulbegleitung. | |
Ich glaube, dass das wohnortspezifisch ist. Wir haben hier im Landkreis | |
eine Menge Schulassistenten und finden in der Regel genau für dieses | |
Aufgabengebiet gut Mitarbeitende. | |
Ist das ein Stadt-Land-Gefälle? | |
Bevor ich hier angefangen habe, war ich für die Stadt Oldenburg, den | |
Landkreis Oldenburg und den Landkreis Wesermarsch tätig, also für ein | |
städtisches Umfeld und für zwei ziemlich große ländliche Landkreise, und | |
ich würde schon sagen, dass es einen Unterschied macht, wo man lebt. Ich | |
weiß, dass es Familien gab, die extra aus Süddeutschland nach Oldenburg | |
gezogen sind, weil sie sich dort eine bessere, inklusive Beschulung für ihr | |
Kind versprochen haben. | |
Woran liegt es, dass das Angebot regional so unterschiedlich ist? | |
Es ist ein Stück Stadt-Land-Gefälle und auch ein Stück die Frage, wie früh | |
sich eine Kommune aufmacht auf den Weg zur Inklusion. | |
Ein Anlass, mit Ihnen zu sprechen, war die Tötung eines zweijährigen Kindes | |
durch die Mutter, die ihm nach bisherigem Ermittlungsstand eben ein Leben | |
mit Behinderung ersparen wollte. Ist das etwas, was Ihre Einrichtung | |
beschäftigt? | |
Dieser Fall ist für uns auf jeden Fall ein Einzelfall. Es passt nicht zu | |
dem, was wir tagtäglich mit den Familien hier in der Beratung erleben. Aber | |
wir wissen nichts über die familiäre Situation, nichts über die Art der | |
Behinderung des Kindes. Wir wissen auch nicht, wie es der Mutter ging. Wir | |
wissen nichts zu den Beweggründen und dem vorhandenen Netzwerk. | |
Laut dem gerade veröffentlichten Gleichstellungsindex der EU leiden | |
Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen am häufigsten unter | |
Diskriminierung. Hat diese Gruppe immer noch keine ausreichend laute Lobby? | |
Die Arbeit nach außen und die Arbeit der Verbände kann sicherlich noch | |
weiter vorangetrieben werden. Es ist noch ein langer Weg zu einer | |
inklusiven Gesellschaft, damit es wirklich normal wird, dass wir tagtäglich | |
unterschiedlichsten Menschen begegnen, und zwar in jeglicher | |
Alltagssituation. | |
Wenn Sie sich eine konkrete Verbesserung wünschen könnten, was wäre das? | |
Mit Sicherheit fehlt es an der Möglichkeit, für Eingliederungshilfe und | |
Teilhabe das Geld auszugeben, das gebraucht wird. Wenn wir eine inklusive | |
Gesellschaft haben wollen mit inklusiver Beschulung, muss man auch gucken, | |
wie Inklusion am Nachmittag weitergehen kann. Sodass das Kind und der | |
Jugendliche mit der Assistentin auch nachmittags noch an Sportangeboten | |
teilnehmen, die für dieses Alter einfach normal sind. Es muss normal | |
werden, dass ein 16-jähriges Mädchen mit einer Assistentin zum Shoppen | |
gehen oder auf ein Konzert fahren kann. | |
Sind das alle Wünsche? | |
Wir haben neben der Eingliederungshilfe noch den Bereich der Pflege, und da | |
gibt es zu wenig Angebote für Kurzzeitpflege. Wenn man etwa ein Kind hat, | |
das körperlich ganz stark beeinträchtigt ist, kann ich das gut tragen, | |
solange es klein ist. Wenn es acht, zehn Jahre alt ist, ist die Pflege | |
deutlich anstrengender. Ich finde, dass solche Eltern auch einmal für eine | |
Woche alleine in einen Urlaub fahren können müssen, um wieder zu Kräften zu | |
kommen. Dann brauchen sie aber jemanden, der sich um das Kind kümmert und | |
die Angebote – übrigens auch die im Erwachsenenbereich – sind sehr eng. | |
31 Jul 2023 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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