# taz.de -- Lernen ohne soziale Kontrolle: Wenn Fettnäpfchen helfen | |
> Sich selbst zu ertappen hat Macht. So kann man sich ändern, ohne sich | |
> rechtfertigen zu müssen, findet unsere Autorin. | |
Bild: Auszeit vom protestantischen Arbeitsethos | |
Kürzlich war ich im Auto unterwegs und musste an einer roten Ampel halten. | |
Auf dem Gehweg stand ein Mann, der völlig unbeeindruckt von den Leuten um | |
sich herum sang – vor sich ein Taschenradio auf einem Stromkasten. Ich | |
dachte erst: Was ist denn mit dem los, wieso macht der das, ist der | |
betrunken? | |
In dem Augenblick wechselte das Programm meines eigenen Autoradios von den | |
Nachrichten zur Musik: Sie spielten mein Lieblingslied von [1][Danger Dan]! | |
Sofort drehte ich die Lautstärke voll auf. „Das ist alles von der | |
Kunstfreiheit gedeckt“, sang ich begeistert mit. Und da habe ich mich | |
plötzlich ertappt gefühlt. | |
Sich ertappt fühlen. Ein schöner Ausdruck, ein interessantes Gefühl! Ich | |
mag diesen Moment, weil ich dann spüre, dass ich unbeabsichtigt über meine | |
eigenen Grenzen hinausgegangen bin. Ein Vorurteil, ein Fettnäpfchen und ich | |
merke, dass ich falsch gedacht, falsch gehandelt habe. | |
Es ist ein sehr privater und ehrlicher Moment, weil er nicht unter der | |
offensichtlichen sozialen Kontrolle anderer passiert. Stattdessen stelle | |
ich allein die von mir internalisierten sozialen Normen infrage. Wenn | |
andere mich auf einen Fehler hinweisen, ist der erste Reflex oft, mich zu | |
verteidigen, um nicht an sozialem Status zu verlieren. Wenn ich mich aber | |
selber ertappe, gibt es niemanden, der über mich urteilt und keinen, vor | |
dem ich mich rechtfertigen müsste. | |
Ab einem gewissen Alter glauben wir ja oft, wir hätten das | |
Richtig-oder-falsch-Game schon durchgespielt und könnten jetzt mit einem | |
gut geeichten moralischen Kompass durchs Leben gehen. Dabei schleichen sich | |
die großen gesellschaftlichen Diskurse ([2][Gendern], nachhaltig Leben, | |
eine Alternative zu Twitter finden) meist nach und nach in unser Denken und | |
Handeln. Nur selten trifft uns die Erkenntnis ganz plötzlich. | |
## Sich zu ertappen kann auch unangenehm sein | |
Bei der [3][Kindererziehung] passiert mir das manchmal. „Erst die Arbeit, | |
dann das Vergnügen“ war ein Grundsatz, den ich von meinen Eltern übernommen | |
und an meine Kinder weitergegeben hatte. Und nachdem ich das Ganze ein | |
Dutzend Mal (oder einhundertmal, bei Kindern kann das ja dauern) wiederholt | |
hatte, stellte ich plötzlich fest: Hoppla, das ist ja ganz falsch! Mir | |
wurde bewusst, dass die Arbeit nie endet, weil es immer etwas zu tun gibt | |
und es meiner eigenen Logik folgend demnach nie Zeit für Vergnügen gäbe. | |
Ich fühlte mich ertappt in meinem protestantisch kapitalistischen | |
Leistungsethos, das ich eigentlich nicht an meine Kinder weitergeben will. | |
Deshalb planen wir jetzt gemeinsam, wann gespielt und wann gelernt, wann | |
gekuschelt und wann geputzt wird. Denn manchmal kann das eine warten, das | |
andere aber nicht. | |
Es gibt auch eine sehr unangenehme Form, sich zu ertappen: in der | |
Erinnerung. Als ich neulich an meine Schulzeit dachte, wurde mir plötzlich | |
bewusst, dass ich mich manchmal falsch verhalten hatte. Erst nach 23 Jahren | |
fiel mir das auf. | |
Da gab es Mitschülerinnen, auf die wir herabsahen, weil sie zu oft den | |
Freund wechselten; da waren die Unangepassten, die Introvertierten, über | |
die wir herzogen, weil sie nicht so sehr wie wir danach strebten, cool zu | |
sein; und da waren die Mitschüler, die erst gerüchteweise und dann | |
offiziell homosexuell waren und [4][die von uns statt Unterstützung Spott | |
ernteten]. Ich wünschte, dass ich das früher gemerkt hätte, denn jetzt ist | |
es zu spät, meinen 16-jährigen Schulkamerad*innen beizustehen. Also | |
hoffe ich, dass ich mich in Zukunft noch oft und rechtzeitig ertappen | |
werde. | |
6 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Danger-Dan-veroeffentlicht-Live-Album/!5939284 | |
[2] /Gegen-Sternchen-und-Doppelpunkte/!5948799 | |
[3] /Koerpererkundung-von-Kindern/!5945737 | |
[4] /Die-Verstaendnisfrage/!5938626 | |
## AUTOREN | |
Theresa Hannig | |
## TAGS | |
Kolumne Über Morgen | |
wochentaz | |
Zukunft | |
wochentaz | |
wochentaz | |
wochentaz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Positiv bleiben trotz Krisen: Berufsoptimistin ist ein harter Job | |
In krisenreichen Zeiten fällt es schwer, hoffnungsvoll zu sein. Dabei ist | |
alles eine Frage der Perspektive, findet unsere Autorin. | |
Verschwörungsmythen im Freundeskreis: Eine Rückkehr ist möglich | |
Was tun, wenn beim Abendessen Verschwörungserzählungen aufgetischt werden? | |
Unsere Autorin will ihren Freund trotzdem wieder einladen. | |
Zukunft auf den Straßen: Städte ohne Autos – wie schön! | |
Immer weniger junge Menschen wollen ein eigenes Auto. Die | |
Nichtmotorisierten erkämpfen sich öffentlichen Raum zurück. |