# taz.de -- Razzia auf Sinti-Wagenplatz: Alle für einen | |
> Bei einem Polizeieinsatz auf einem Osnabrücker Sinti-Kulturplatz wurden | |
> alle Anwesenden durchsucht, obwohl ein Haftbefehl nur für einen vorlag. | |
Bild: Ralf Florian auf dem Reiseplatz, hinter ihm zwei der durchsuchten Wohnwag… | |
OSNABRÜCK taz | Es ist der 5. Juli. Alles scheint friedlich. Ralf Florian | |
sitzt in seinem kleinen Haus am Osnabrücker Hafen. Er hat es selbst gebaut, | |
an einer Waldlichtung. | |
Ralf Florian ist vieles: Gitarrist, Naturführer, Geigenrestaurator. Seit 27 | |
Jahren wohnt er hier, betreut im Auftrag der Stadt den Kultur- und | |
Reiseplatz, an dessen Zufahrt sein Häuschen liegt, malerisch umgrünt. Es | |
ist idyllisch hier. Die Industrie- und Speditionsgelände, die den Platz | |
umgeben, sind vom Laub der Bäume verdeckt, auch das Recyclingcenter. Ein | |
Natur-Kleinod mitten in der Stadt. [1][Sinti kommen hierher], mit ihren | |
Wohnwagen. Plätze wie diesen gibt es nicht mehr viele in Deutschland. | |
Kurz vor 17 Uhr ist die Idylle vorbei. Florian hört ein Geräusch, geht ans | |
Fenster. Er sieht einen Mannschaftswagen der Polizei. Zwei Dutzend | |
Bereitschaftspolizisten fluten das Gelände, sie tragen Helme, Schlagstöcke, | |
Schusswaffen. Alle Wohnwagen werden durchsucht, der Sanitärcontainer, | |
Autos, Gebüsche. Auch Florians Haus, Schuppen und Garten. Warum, sagt man | |
ihm nicht. Dabei sein darf er nicht. Erst danach wird er gefragt, ob er | |
zustimmt. Er stimmt zu. | |
„Ich war geschockt“, sagt er. „Jahrzehnte habe ich vertrauensvoll mit der | |
Polizei zusammengearbeitet, auch mit dem Ordnungsamt. Bevor ich hierher | |
kam, war der Platz ein Brennpunkt der Kriminalität. Ich habe einen Ort der | |
Ruhe und des Friedens daraus gemacht, mit viel Offenheit, oft als | |
Vermittler. Und dann das!“ | |
Zwei Frauen sind auf dem Platz, als die Polizei eintrifft, dazu zwei | |
minderjährige Mädchen, ein Besucher. Und Florian. Weil die Polizei | |
irrtümlich annimmt, dass auch er ein Sinto ist, wird er mit ihnen im Freien | |
eingekesselt, während die Razzia läuft. Anderthalb Stunden müssen sie in | |
Kälte und Regen ausharren. In der „Niederschrift über Durchsuchung, | |
Sicherstellung, Beschlagnahme“, die Florian am Ende bekommt, ist „Gefahr im | |
Verzuge“ angekreuzt. Worin diese Gefahr bestand, versteht Florian nicht. | |
„Wir waren alle völlig friedlich.“ | |
Es ist dort auch von einem „Verfahren“ gegen Florian die Rede – obwohl die | |
Durchsuchung nur einem Gast des Platzes gilt, der kurz zuvor an einer | |
Tankstelle verhaftet worden ist. Florian weiß nichts über ihn. | |
„Klar, auch unter den Sinti gibt es Kriminelle“, sagt Florian. „Wie in | |
jeder Bevölkerungsgruppe. Und wenn sich hier ein Straftäter aufhält, ist | |
das schlecht. Was mich allerdings empört, ist der Generalverdacht. Warum | |
wurden auch meine Räume durchsucht, warum Wohnwagen, deren Bewohner gar | |
nichts mit der Sache zu tun hatten?“ Florians Vermutung: Klischeedenken, | |
Antiziganismus, Racial Profiling. „Die Einsatzkräfte haben sich verhalten, | |
als seien alle Sinti Verbrecher.“ | |
Für den Platz kann das fatale Folgen haben. „Das spricht sich ja schnell | |
herum“, sagt Florian. „Dann fährt hier womöglich niemand mehr hin. Wer wi… | |
schon grundlos durchsucht und schikaniert werden?“ | |
Florian bezeichnet den Platz, auf dem auch Konzerte stattfinden, auf einer | |
selbstgebauten Bühne, als „zarte Pflanze“. Dass ein solch massiver | |
Polizeieinsatz unter den Sinti zu Skepsis führt, kann er verstehen. Obwohl | |
seit Jahrhunderten im deutschsprachigen Raum beheimatet, sehen sie sich oft | |
ausgegrenzt. Eine Diskriminierung, die jüngst auch Thema der Theatercollage | |
„Hafensicht“ war, zu deren Schauplätzen der Kulturplatz gehörte und bei d… | |
Florian als Darsteller auftrat. | |
Kräfte der Bereitschaftspolizei Osnabrück waren am 5. Juli vor Ort, | |
bestätigt Matthias Bekermann, Sprecher der Polizeiinspektion Osnabrück, der | |
taz. „Zuständig und verantwortlich“ sei die Staatsanwaltschaft Hildesheim | |
gewesen. Alle Fragen bitte dorthin. | |
## Staatsanwaltschaft hält sich bedeckt | |
Staatsanwalt Stefan Rusch, Staatsanwaltschaft Hildesheim, hält sich | |
bedeckt. Grund der Maßnahme sei „die Umsetzung eines hiesigen | |
Vollstreckungshaftbefehls gegen eine auf dem Platz befindliche Person“ | |
gewesen. Dort wurde die Frau des zuvor Verhafteten angetroffen – und | |
ihrerseits verhaftet. | |
Ein schriftlicher Durchsuchungsbefehl, räumt Rusch ein, habe „aufgrund der | |
Eilbedürftigkeit“ nicht vorgelegen. Mündliche Durchsuchungsanordnungen habe | |
es „für die dort befindlichen Wohnobjekte“ gegeben, also auch für Florians | |
Haus. Hatte der Einsatz etwas mit dem Kampf der niedersächsischen Polizei | |
gegen „Clankriminalität“ zu tun? Rusch bescheidet knapp: „Nein.“ | |
Seit Herbst 2020 gibt es in Niedersachsen vier | |
„Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften Clankriminalität“, die gegen „kriminel… | |
Familienclans“ vorgehen sollen, so die damalige [2][CDU-Justizministerin]. | |
Sie sitzen in Hildesheim, Braunschweig, Osnabrück und Stade. 18 | |
zusätzliche Stellen wurden dafür geschaffen. | |
Auch nach Ausscheiden der CDU aus der Landesregierung ermitteln die | |
Staatsanwaltschaften weiter: „Kriminelle Clanstrukturen sind gekennzeichnet | |
durch die Begehung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten jeglicher | |
Deliktsart und -schwere aus diesem Umfeld, das sich durch ein hohes | |
kriminelles Potenzial und eine allgemein rechtsfeindliche Gesinnung | |
auszeichnet“, so heißt es im „dritten gemeinsamen Lagebild von Polizei und | |
Justiz zur Clankriminalität in Niedersachsen“, das Ende Juni [3][vom | |
Innenministerium herausgegeben wurde]. | |
Nach eigener Darstellungen sind die Ermittlungen durchaus erfolgreich. Habe | |
man Im Jahr 2021 noch 2.841 Delikte der „Clankriminalität“ zuordnen könne… | |
seien es im Jahr 2022 bereits 3.986 Straftaten gewesen. „Dieser deutliche | |
Anstieg der Fallzahlen um etwa 40 Prozent ist sowohl auf einige | |
Umfangsverfahren als auch auf eine durch intensive Befassung mit den | |
Strukturen verbesserte phänomenbezogene Zuordnung zurückzuführen“, heißt … | |
dazu im Lagebild. | |
Laut Mario Franz, Sprecher des Niedersächsischen Verbandes deutscher Sinti, | |
bekommen sein Verband und die betreffenden Beratungsstellen den verstärkten | |
Einsatz der Strafverfolgungsbehörden zu spüren. Ihnen würden zunehmend | |
„Beschwerden, Ängste und besorgniserregende Berichte“ in Verbindung mit der | |
„Aktion Bekämpfung der Clankriminalität“ zugetragen. | |
„Die Polizei und andere Vertreter:innen der Strafverfolgungsbehörden | |
legen ein Verhalten zutage, das unseren teils durch transgenerativ vererbte | |
Traumata verunsicherten Menschen nicht gerade dabei hilft, Vertrauen in die | |
Polizeiarbeit zu entwickeln.“ Die Kommunikation lasse „eindeutig werden, | |
dass kleinste Konflikte bis hin zu ernst zu nehmenden Verbrechen ethnisiert | |
und absichtlich Zusammenhänge mit unserer Minderheit durch zigane | |
Projektionen konstruiert werden“. | |
Schon allein das Wort „Clankriminalität“ impliziere Rassismus, sagt Mario | |
Franz. Unter diesem Deckmantel werde „eine Sippenhaftung gegenüber | |
bestimmten Gruppen praktiziert“. | |
Wie es jetzt weitergeht mit dem Sinti-Reiseplatz? Ralf Florian hofft auf | |
Deeskalation. „Aus Ängsten entsteht Unzufriedenheit, Widerstand“, sagt er. | |
„Das kann doch niemand wollen!“ | |
9 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Sinti/!t5011489 | |
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[3] https://www.mi.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen/vo… | |
## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
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