# taz.de -- Pränatale Diagnostik: Tests testen lassen | |
> Schwangere können ihr Ungeborenes seit 2022 kostenlos auf Trisomien | |
> testen. Das soll riskantere Untersuchungen vermeiden – bisher mit wenig | |
> Erfolg. | |
Bild: Fehlende Gewissheit: Die Fehlerquote liegt bei NIPTs bei etwa 30 Prozent | |
BREMEN taz | Es klang fortschrittlich, was Bundesgesundheitsminister Karl | |
Lauterbach, damals gesundheitspolitischer Sprecher der | |
SPD-Bundestagsfraktion, im April 2019 in einer Parlamentsdebatte | |
versprochen hatte: Keine Schwangere, die sicher ausschließen will, ein Kind | |
mit Trisomie 21 („Downsyndrom“) zu bekommen, müsse in Zukunft aus | |
Kostengründen eine „gefährliche“ Fruchtwasseruntersuchung machen lassen. | |
Möglich wäre das, wenn die gesetzlichen Krankenversicherungen die Kosten | |
für den sogenannten [1][nichtinvasiven Pränataltest (NIPT)] übernehmen. Das | |
ist seit 2022 der Fall. Zuvor mussten Schwangere den Test selbst bezahlen. | |
Ob Lauterbach mit seinem Versprechen recht behalten hat, müsse die | |
Bundesregierung evaluieren, heißt es in einem Antrag Bremens an den | |
Bundesrat. Dieser soll am Freitag über den Antrag abstimmen. Dass über die | |
Tests diskutiert wird, ist wichtig. Denn eine taz-Recherche zeigt: Die | |
Tests werden nicht so eingesetzt wie ursprünglich gedacht. Sie ersetzen die | |
riskanteren Fruchtwasseruntersuchungen nicht unbedingt, sondern im | |
Gegenteil, sie provozieren sie. | |
Bei dem NIPT, der seit 2012 für den deutschen Markt zugelassen ist, wird ab | |
der zehnten Schwangerschaftswoche das Blut der Schwangeren untersucht. Mit | |
fast 100-prozentiger Sicherheit lassen sich die Trisomien 13, 18 und 21, | |
bei denen Chromosomensätze drei- statt zweifach vorliegen, ausschließen. | |
Diese können zu unterschiedlich schweren Fehlbildungen führen. | |
Dass der Test eine Kassenleistung ist, hat nicht das Parlament entschieden, | |
sondern der für solche Fragen verantwortliche Gemeinsame Bundesausschuss | |
aus Krankenkassen und Kassenärzt:innen. Das war fünf Monate nach der | |
parlamentarischen „Orientierungsdebatte“ im Jahr 2019. | |
## Die Befürchtungen treffen zu | |
Der Antrag aus Bremen geht zurück auf das Protokoll eines Fachaustauschs, | |
initiiert von dem Bremer Landesbehindertenbeauftragen und der | |
Landesfrauenbeauftragten. In ihm wird die Bundesregierung gebeten, ein | |
Monitoring zur Inanspruchnahme des Tests und den Konsequenzen daraus | |
einzurichten sowie ein Expertengremium zu „rechtlichen, ethischen und | |
gesundheitspolitischen Grundlagen der Kassenzulassung des NIPT“ zu berufen. | |
Die Länderkammer wird dem am heutigen Freitag voraussichtlich zustimmen, | |
nachdem dies von zwei Fachausschüssen des Bundesrats empfohlen wurde. | |
Die taz-Recherche zeigt, dass einige der in dem Antrag genannten | |
Befürchtungen zutreffen. So hatten bereits im Vorfeld der Entscheidung | |
Mediziner:innen davor gewarnt, der Test könne wie eine | |
Reihenuntersuchung bei fast allen Schwangeren eingesetzt werden. | |
Tatsächlich kommt der NIPT nach den der taz exklusiv vorliegenden Zahlen | |
derzeit in jeder dritten bis vierten Schwangerschaft – die nicht zu einem | |
frühen Zeitpunkt abgebrochen wird – zur Anwendung, Tendenz steigend. | |
Grundlage für diese grobe Schätzung sind Abrechnungsdaten aller 17 | |
kassenärztlichen Vereinigungen – in Nordrhein-Westfalen gibt es zwei –, die | |
der taz mitgeteilt haben, wie oft in ihrem Bereich der NIPT Trisomien | |
abgerechnet wurde. Im dritten Quartal 2022, dem ersten nach | |
Kassenzulassung, war dies deutschlandweit 51.367-mal der Fall, im vierten | |
Quartal 2022 schon 60.081-mal. Auch der GKV-Spitzenverband der gesetzlichen | |
Krankenkassen hatte parallel zur taz die Daten abgefragt und gibt auf | |
Anfrage etwas höhere Werte an. Die Differenz kann mit einem | |
unterschiedlichen Abfragezeitpunkt zu tun haben. | |
Aussagen auf Länderebene lassen sich nicht treffen, da es nur wenige Labore | |
in Deutschland gibt, die den Test auswerten. Nur sie beziehungsweise ihre | |
Ärzt:innen können mit den Kassen abrechnen. Aus dem Bundesland mit dem | |
größten Labor, in dem bisher ein Drittel aller Tests ausgewertet wurden, | |
liegen der taz Daten für das erste Quartal 2023 vor. Diese zeigen eine | |
weitere Zunahme, allerdings nicht so stark wie zuvor. | |
Die Häufigkeit lässt sich errechnen, wenn man die Tests – umgerechnet etwa | |
250.000 im Jahr – ins Verhältnis zu den Geburten setzt: 739.000 Kinder | |
wurden im Jahr 2022 geboren, die Daten des Statistischen Bundesamts für das | |
erste Quartal 2023 zeigen, dass es in diesem Jahr weniger sein werden. Das | |
ist nicht gleichzusetzen mit allen Schwangerschaften – aufgrund von | |
Mehrlingsgeburten und frühen Fehlgeburten. Andererseits sind 10 Prozent | |
aller Patient:innen in Deutschland privat versichert, deren Tests | |
müssten noch einmal hinzugerechnet werden. Es spricht daher einiges dafür, | |
dass eher eine von drei als eine von vier Schwangeren den Test macht. | |
Das Problem ist dabei weniger, dass viele Frauen vor der Geburt wissen | |
wollen, ob sie ein Kind mit Downsyndrom erwarten, der häufigsten | |
Chromosomenstörung. Durchschnittlich 0,2 Prozent aller Föten weisen diese | |
Fehlbildung auf, nach der seit Langem in der Schwangerenvorsorge gesucht | |
wird. Ob ein entsprechender Befund automatisch zum Schwangerschaftsabbruch | |
führt, wie es der Bremer Antrag nahelegt, lässt sich für Deutschland nicht | |
überprüfen. | |
Anders als etwa in Dänemark gibt es kein bundesweites Fehlbildungsregister. | |
Nach Daten des [2][Landes Sachsen-Anhalt] wurde das Downsyndrom im Jahr | |
2021 35-mal nachgewiesen, in 19 Fällen wurde die Schwangerschaft | |
abgebrochen. In [3][Dänemark] halbierte sich nach Testeinführung im Jahr | |
2004 die Zahl der jährlich mit dem Downsyndrom geborenen Kinder von | |
durchschnittlich 10 auf 5 pro 10.000 Lebendgeburten. | |
Die Gefahr einer massenhaften Anwendung des NIPT liegt an anderer Stelle: | |
der hohen Falsch-positiv-Rate. Das bedeutet, dass der Test in 30 Prozent | |
der Fälle eine Trisomie falsch erkennt, bei jüngeren Frauen noch häufiger. | |
Das ist keine neue Erkenntnis, wie der Bundesratsantrag nahelegt, sondern | |
lange bekannt. Pränatalmediziner:innen – auf die Diagnose von | |
fetalen Fehlbildungen spezialisierte Gynäkolog:innen – hatten darauf | |
erfolglos hingewiesen. | |
Sie hatten gefordert, die Kostenübernahme davon abhängig zu machen, ob es | |
Grund zu der Annahme gibt, dass eine Trisomie vorliegt, etwa ein höheres | |
Alter der Schwangeren oder ein auffälliger Ultraschallbefund. So | |
eingesetzt, als Diagnoseinstrument, könnte der Test eine invasive, mit | |
Risiken behaftete Untersuchung ersetzen und wäre tatsächlich „schlicht und | |
ergreifend viel besser“, wie Lauterbach es 2019 formuliert hatte. | |
Stattdessen ist die Entscheidung der Schwangeren überlassen, ob sie den | |
Test will oder nicht. | |
Die Bremer Antragsteller warnen davor, dass Frauen jetzt Schwangerschaften | |
aufgrund eines positiven NIPT abbrechen lassen, ohne sich mit weiterer | |
Diagnostik zu vergewissern, dass das Ergebnis stimmt. Belege dafür gibt es | |
keine. Aus den Daten des Statistischen Bundesamts lässt sich kein | |
Zusammenhang zwischen der Einführung des NIPT und einer Zunahme an | |
Schwangerschaftsabbrüchen herauslesen. Denn diese sind zwar im vergangenen | |
Jahr deutlich angestiegen – aber das gilt auch für die Quartale vor der | |
Kassenzulassung. | |
Es scheint sich eher zu bewahrheiten, was Pränatalmediziner:innen | |
bereits im März der taz gesagt hatten und jetzt in ihren Praxen erleben: | |
Sie führen einen hohen Anteil invasiver Untersuchungen aufgrund eines | |
positiven NIPT durch. Dabei wird über eine Hohlnadel durch die Bauchdecke | |
Fruchtwasser oder Plazentagewebe entnommen. Das Fehlgeburtsrisiko liegt | |
laut jüngeren Studien bei unter 0,5 Prozent. | |
Tests sinnvoller nutzen | |
Die Gesamtzahl dieser Untersuchungen ist zwar leicht gesunken, wie aus | |
weiteren, der taz vorliegenden Abrechnungsdaten der kassenärztlichen | |
Vereinigungen* hervorgeht: So gab es im zweiten Halbjahr 2022 9,1 Prozent | |
weniger Fruchtwasser- und 13,7 Prozent weniger Plazentauntersuchungen als | |
im Vorjahreszeitraum. Als Erfolg ließe sich das aber kaum verkaufen, wenn | |
man bedenkt, dass der NIPT diese Diagnosemethoden überflüssig machen | |
sollte, sagt Jochen Frenzel vom Berufsverband der Frauenärzte. | |
Den auch im Bundesratsantrag geäußerten Verdacht, er und seine | |
Kolleg:innen würden die Schwangeren schlecht beraten oder ihnen sogar | |
den Test empfehlen, weist er zurück. Viermal fünf Minuten könnten die | |
Gynäkolog:innen für die Beratung abrechnen – in dieser Zeit sei es | |
kaum möglich, umfassend über Vor- und Nachteile aufzuklären. Die | |
Verantwortung für Fehlentwicklungen liege nicht bei den Ärzt:innen oder | |
den Schwangeren, sondern dem Gemeinsamen Bundesausschuss. „Der hat hier | |
einfach versagt.“ | |
Der Berufsverband niedergelassener Pränatalmediziner:innen geht | |
davon aus, dass die Testhäufigkeit nach der ersten Anlaufphase weiter | |
ansteigen wird, wie er der taz in einer Stellungnahme schreibt. Und: | |
Sinnvoll genutzt werden könnte der Test nur in Verbindung mit einem | |
speziellen Ultraschall im ersten Trimester – also wenn dieser eine | |
Auffälligkeit gezeigt hat. Dieser könnte auch andere Fehlbildungen erkennen | |
– nur 5 bis 10 Prozent von ihnen werden von Chromosomenstörungen ausgelöst. | |
Aber dieses sogenannte Ersttrimester-Screening ist keine Kassenleistung. | |
*ohne Mecklenburg-Vorpommern | |
16 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Praenataltests-auf-das-Downsyndrom/!5922757 | |
[2] http://www.angeborene-fehlbildungen.com/monz_mm/Dokumente/Jahresberichte/Be… | |
[3] https://www.fagperson.auh.dk/afdelinger/klinisk-genetisk-afdeling/dccr/ | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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