| # taz.de -- Die Berge des Giro d'Italia: Mythische Höhen | |
| > Die Quälerei über die Alpenpässe macht den Reiz der Italienrundfahrt aus. | |
| > An den Anstiegen schreiben die Helden des Radsports Geschichte. | |
| Bild: Typisch Giro: Schnee, übles Wetter und steile Rampen – Felice Gimondi … | |
| Bergamo taz | Das Peloton des Giro d’Italia ist erschöpft, lädiert und | |
| dezimiert. 136 Fahrer nur noch sind Ende der zweiten Woche von den 176 | |
| Gestarteten übrig. Stürze ließen Knochen krachen und offenes Fleisch unter | |
| der Haut hervorquellen. Corona forderte Tribut. Und auch Kälteeinbrüche und | |
| beinahe andauernder Regen trugen zu fast schon historischem Ungemach bei. | |
| „Dieser Giro wird besonders“, prophezeite bereits in der ersten Woche | |
| Enrico Gasparotto, sportlicher Leiter des deutschen Teams Bora-Hansgrohe | |
| und zwischen 2007 und 2019 selbst acht Mal Giro-Fahrer. Besonders mache | |
| diesen Giro das Wetter, in Kombination natürlich mit dem harten Parcours, | |
| meinte Gasparotto. | |
| [1][Das Leiden der Einen ist der Mythos-Generator] für die anderen. Je | |
| furchtbarer eine Etappe ist, auf desto gewaltigere mythische Höhen lassen | |
| sich die Erzählungen darüber schrauben. Aus genau diesem Grunde ließ 1937 | |
| Armando Cougnet, Chef der Gazzetta dello Sport und zugleich | |
| Gründungsdirektor des Giro d’Italia, das Peloton zum allerersten Mal durch | |
| die Bergwelt der Dolomiten fahren. | |
| Es war eine Jubiläumsausgabe des Giro, die 25., und Cougnet wollte etwas | |
| ganz Besonderes kreieren. Glaubt man den Chronisten, waren die | |
| Gebirgsstraßen damals eher Maultierpfade und Überreste alter | |
| Militärstraßen. Zu denen, die damals zuerst im Wettkampfmodus über den | |
| Karerpass und den Passo Rolle mussten, gehörten [2][Gino Bartali, der | |
| Titelverteidiger und spätere zweifache Tour de France-Sieger], sowie der | |
| damalige italienische Meister und Olympiasieger von 1932 in Los Angeles, | |
| Giuseppe Olmo. | |
| Für Bartali wurde es eine Triumphfahrt. Mehr als fünf Minuten nahm er dem | |
| Zweitplatzierten ab. Für Olmo hingegen, in seiner Karriere immerhin 20 Mal | |
| Etappensieger des Giro und 1936 Gesamtzweiter hinter Bartali, war es eine | |
| Tortur. Er war so erschöpft und mit seiner Moral derart am Ende, dass er | |
| darum bat, das italienische Meistertrikot ausziehen und es mit seinem | |
| normalen Trikot ersetzen zu dürfen. Denn er habe die Trikolore mit seiner | |
| schwachen Leistung entehrt. So ist es zumindest auf der Website | |
| [3][ilnuovociclismo.com] zu lesen. | |
| ## Olmo am Ende | |
| Bei dieser Dolomitenpremiere gab auch einer der populärsten deutschen | |
| Rennfahrer jener Zeit auf: Otto Weckerling. Der gebürtige Anhaltiner | |
| entschädigte sich ein paar Wochen später mit dem Gewinn der Deutschlandtour | |
| sowie dem Sieg bei einer Alpenetappe der Tour de France; er war wahrlich | |
| kein Schwächling. Die Dolomiten aber waren zuviel für ihn. Zuviel auch für | |
| Olmo. Der hörte bald darauf mit dem aktiven Radsport auf und begann 1939, | |
| als 28-Jähriger, Fahrräder zu bauen. Die Marke Olmo existiert bis heute. | |
| Sie stellte 1999 das Rad, auf dem der Spanier Oscar Freire Weltmeister | |
| wurde. | |
| Vincenzo Torriani, Nachfolger von Cougnet als Giro-Chef, wollte seinem | |
| Vorbild nicht nachstehen. In seiner Amtszeit beim Giro, fast ein halbes | |
| Jahrhundert lang von 1949 bis 1993, führte er Stilfser Joch (1953), | |
| Gaviapass (1960) und Mortirolo (1990) ein. Die Premiere am Gavia war | |
| zunächst davon geprägt, dass eine Einheit der italienischen Gebirgsjäger | |
| die ganze Nacht den Schnee wegschippte. | |
| In der Schneise, die sie in die weiße Welt geschlagen hatten, wuchtete sich | |
| der Italiener Imerio Massignan als Erster nach oben. Seitdem nannte man ihn | |
| den „Engel des Gavia“. Er war allerdings ein unglücklicher Engel. Denn auf | |
| der Abfahrt platzte ihm gleich zweimal der Reifen. Das Begleitauto war | |
| unendlich weit weg. Massignan flickte selbst. | |
| Der Luxemburger Kletterkünstler Charly Gaul, auf dem Pass noch zwei Minuten | |
| hinter Massignan, kam immer näher und überholte ihn schließlich. In den | |
| Straßen des Zielortes Bormio schloss Massignan noch einmal auf – bis ihn | |
| eine weitere Panne ereilte und er 14 Sekunden hinter Gaul den Zielstrich | |
| überquerte. | |
| Er war der tapferste Fahrer jenes Tages, der schnellste am Berg. Gleich | |
| vier Pannen auf dieser Etappe verhinderten aber seinen Sieg. Gaul kam, wie | |
| die Chronisten notierten, mit „nur“ zwei Pannen davon. Den Giro gewann | |
| allerdings auch Gaul nicht. Er wurde Gesamtdritter, Massignan – noch einmal | |
| ein Unglücksrabe – Gesamtvierter mit 15 Sekunden Rückstand auf Gaul. | |
| ## Die verschwundene Bergetappe | |
| Das Rosa Trikot des Gesamtsiegers brachte Jacques Anquetil nach Frankreich. | |
| Insgesamt gewann er zweimal den Giro und fünfmal die Tour. Der „Engel vom | |
| Gavia“ hielt sich in derselben Saison in Anquetils Heimat schadlos, wurde | |
| Bergkönig der Tour de France. | |
| Anquetil war sieben Jahre später bei einer weiteren Bergpremiere dabei, der | |
| sogenannten „verschwundenen Bergetappe“ des Giro. Stilfser Joch und Gavia | |
| waren Giro-Boss Torriani noch nicht steil, herausfordernd und spektakulär | |
| genug. Also ließ er zum nächsten Jubiläum, der 50. Austragung des Giro, den | |
| Weg zu den Drei Zinnen von Lavaredo erkunden. | |
| Das sind drei Felsbrocken, die tatsächlich wie Überreste einer Festung von | |
| Giganten aussehen. Asphaltierte Straßen gab es damals noch nicht. Die Piste | |
| war so steil, der Belag so uneben, dass die Fahrer Schwierigkeiten hatten, | |
| das Gleichgewicht zu halten. „Tausende Fans standen links und rechts der | |
| Straße auf den letzten Kilometern des Anstiegs. Angesichts der Probleme der | |
| Fahrer sahen sie sich genötigt, sie noch mehr als üblich anzuschieben, | |
| auch, um zu verhindern, dass sie in den Morast neben der Piste fielen“, | |
| erinnert sich Giovanni Michelotti, damals Vizechef des Giro. | |
| Dass die Fans mehr schoben und drängten als sonst, hing wohl auch damit | |
| zusammen, dass die Gebirgsjäger, die eigentlich für Sicherheit sorgen | |
| sollten und schon seit 7 Uhr früh an der Strecke standen, sich in der Kälte | |
| mit Grappa wärmten. Als die Giro-Karawane dann eintraf, waren fast alle | |
| Gebirgsjäger besoffen, will Michelotti beobachtet haben. | |
| Vielen Fans dürfte es kaum anders gegangen sein. Nur einen schoben sie | |
| nicht an: Wladimiro Panizza. Der war damals 22 Jahre jung, in seinem ersten | |
| Profijahr und auf dem Weg zu seinem ersten großen Erfolg. Er war der | |
| Ausreißer des Tages und stürmte ganz allein auf die Drei Zinnen zu. Weil er | |
| so stark war und nicht in den Graben zu stürzen drohte, schob ihn auch | |
| keiner an. Es war das Pech von Panizza. Hinter ihm jagten, angetrieben | |
| durch die Zuschauer, die großen Favoriten her: Eddy Merckx, der spätere | |
| Alles-Gewinner, Felice Gimondi, auch er Sieger aller drei großen | |
| Rundfahrten und Weltmeister obendrein sowie Anquetil, ebenfalls Sieger von | |
| Giro, Tour und Vuelta, aber niemals Weltmeister. | |
| Anquetil wurde abgehängt, Merckx und Gimondi zogen an Panizza vorbei. | |
| Gimondi gewann die Etappe und holte rosa. Bei Panizza flossen derweil | |
| Tränen der Enttäuschung, vielleicht auch solche des Zorns. Angerührt von | |
| dem Elend und wohl auch beschämt wegen der zu offensichtlichen Hilfe für | |
| die Verfolger ließ Giro-Boss Torriani die Etappe annullieren. | |
| ## Hagel an den drei Zinnen | |
| Die Drei Zinnen waren auch in diesem Jahrhundert Schauplatz mythischer | |
| Etappen. 2013 etwa stürmte [4][Vincenzo Nibali] im Rosa Trikot des | |
| Gesamtführenden als Solist durch die Schneise, die wieder einmal in den | |
| Schnee geschlagen war. Sage und schreibe 15 Räumfahrzeuge fuhren die ganze | |
| Nacht hin und her, um den Weg passierbar zu halten, schreibt der Journalist | |
| [5][Fabio Genovesi in seinem Huldigungsbuch „In meinem Herzen alles | |
| Sieger“]. Es regnete, es hagelte und schneite. | |
| Den Weg vermochte Nibali kaum zu sehen. Eher hörte er ihn, stets darauf | |
| achtend, das Schreien der Fans von links und das Schreien der Fans von | |
| rechts in der gleichen Lautstärke zu vernehmen, dem Sonar eines Delfins | |
| gleich. Man nannte ihn ja auch, zwar nicht den Delfin, aber doch den „Hai | |
| von Messina“. Nibali zementierte hier seinen ersten Giro-Sieg. Auch er | |
| fügte noch Tour und Vuelta zum großen Triple hinzu. | |
| Am nächsten Freitag geht es erneut zu den Drei Zinnen in die Dolomiten. Das | |
| Wetter wird sicher wieder furchtbar. Und die Zinnen werden, wenn das Rennen | |
| nicht ausfällt, den nächsten Helden gebären. Unklar ist nur, ob einen | |
| glücklichen wie Nibali, einen tragischen wie Panizza oder einen beschämten | |
| wie Gimondi. | |
| 20 May 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tom Mustroph | |
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