# taz.de -- Türkische Wahl im Ausland: Transnationale Wahlkampfbühne | |
> Der Blick auf türkische Wahlberechtigte im Ausland hat Tradition. Ihre | |
> Stimmen sind nicht ausschlaggebend, der Wahlkampf um sie aber | |
> strategisch. | |
Bild: Arbeitsminister Ali Naili Erdem bei einem Besuch in einem Gastarbeiterzen… | |
Vor [1][Wahlen in der Türkei] wird Deutschland regelmäßig zur | |
transnationalen Wahlkampfbühne. Mehr als 1,5 Millionen Menschen mit | |
türkischem Pass können in Deutschland wählen, und damit fast die Hälfte | |
aller Wahlberechtigten im Ausland, die rund 5 Prozent der 64 Millionen | |
türkischen Wahlberechtigten ausmachen. | |
Bei knappem Wahlausgang könnten diese Stimmen entscheidend sein. Als im | |
Januar der AKP-Abgeordnete Mustafa Açıkgöz in einer den rechtsextremen | |
Grauen Wölfen nahestehenden Moschee in Neuss Wahlkampf machte und gegen die | |
PKK und die Gülen-Bewegung hetzte, weckte das Erinnerungen an 2017. | |
Damals hatten kurz vor dem Referendum über eine neue Verfassung in der | |
Türkei im April 2017 Wahlkampfauftritte türkischer Politiker*innen in | |
Deutschland schwere politische Spannungen ausgelöst. Zusammen mit der | |
Inhaftierung deutscher Staatsbürger in der Türkei markierte die | |
diplomatische Krise einen historischen Tiefpunkt in den Beziehungen der | |
beiden Länder. | |
Im Juni [2][2017 verhängte die Bundesregierung drei Monate vor der Wahl ein | |
Wahlkampfverbot] für Abgeordnete aus Nicht-EU-Staaten und es gab eine | |
Genehmigungspflicht für Wahlkampfveranstaltungen außerhalb dieses | |
Zeitraums. Auch diesmal lud das Außenministerium den türkischen Botschafter | |
zum Gespräch und erklärte, Auftritte wie der in Neuss dürften sich nicht | |
wiederholen, Hetze und Hassrede hätten in Deutschland nichts verloren. Der | |
türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sagte einen für Ende Januar | |
geplanten Berlinbesuch ab, weil man sich, wie das Redaktionsnetzwerk | |
Deutschland berichtete, nicht auf Themen und eine Uhrzeit für das Treffen | |
mit Bundeskanzler Scholz einigen habe können. | |
## Türkischer Wahlkampf 1973 | |
Dass sich vor Wahlen in der Türkei der Blick der Politiker und der | |
Gesellschaft auf die Wahlberechtigten mit türkischem Pass im Ausland | |
richtet, ist nicht neu, sondern hat jahrzehntelange Tradition in der | |
deutsch-türkischen Geschichte. Bereits vor 50 Jahren kam es in Frankfurt am | |
Main zu einem ähnlichen Zwischenfall wie jenem in Neuss. Ende Juli 1973 | |
besuchte der Arbeitsminister Ali Naili Erdem von der konservativen Adalet | |
Partisi (Gerechtigkeitspartei, AP) Deutschland, um vor der Wahl in der | |
Türkei am 14. Oktober 1973 mit Arbeitsmigrant*innen über ihre Probleme | |
zu sprechen. | |
Im Jahr 1973 lebten fast eine Million türkische Staatsbürger*innen in | |
Westdeutschland und es bahnte sich ein politisch bewegter Spätsommer und | |
Herbst an. In der Türkei sollten drei Monate später nach zwei Jahren | |
Ausnahmezustand zum ersten Mal seit dem Militärputsch am 12. März 1971 | |
wieder Wahlen stattfinden. | |
In Deutschland sollten nur wenige Wochen nach Erdems Besuch | |
Arbeitsmigrant*innen mit wilden Streiks gegen schlechte | |
Arbeitsbedingungen zuerst den Fabrikbetrieb bei Pierburg in Neuss und dann | |
bei Ford in Köln lahmlegen. Vier Monate später, im November 1973, sollte | |
die Bundesregierung einen Anwerbestopp für Arbeitsmigrant*innen | |
verhängen. Einige Historiker*innen sehen einen Zusammenhang zwischen | |
den Ereignissen, denn politische Aktivitäten von „Gastarbeitern“ waren in | |
Deutschland nicht erwünscht. | |
All das lag bei dem Besuch des türkischen Arbeitsministers Erdem im Juli | |
1973 in der Luft. Die Bundesregierung wollte nicht in den türkischen | |
Wahlkampf verwickelt werden und hatte aus Sorge davor einen Besuch des | |
Oppositionsführers Bülent Ecevit von der CHP auf einen Termin nach den | |
Wahlen verschoben. Sie ging davon aus, dass die CHP die Wahl verlieren | |
würde und ein Besuch Ecevits in Deutschland von der konservativen AP als | |
Wahlkampfunterstützung verstanden werden könnte. | |
## Linke sabotieren Auftritt des Arbeitsministers | |
Ironischerweise sorgte wenig später der Auftritt des konservativen | |
Arbeitsministers Erdem in Frankfurt dafür, dass Deutschland doch zur Bühne | |
eines Eklats im türkischen Wahlkampf wurde. Denn Erdem wurde am 31. Juli | |
1973 in Frankfurt nicht von jubelnden Anhänger*innen begrüßt, sondern | |
von linksgerichteten Arbeitsmigrant*innen. Nach der Veranstaltung in | |
Frankfurt brach Erdem seine Deutschlandreise aufgrund von | |
Sicherheitsbedenken vorzeitig ab und kehrte in die Türkei zurück. | |
Der Nachrichtenagentur dpa gegenüber begründete er seine verfrühte Abreise | |
damit, die Polizei habe nicht für seine Sicherheit garantieren können. Eine | |
Gruppe von 70 bis 80 linksradikalen Migrant*innen habe die Versammlung | |
wiederholt sabotiert, so Erdem. Die Frankfurter Polizei dementierte, dass | |
die Sicherheit des Arbeitsministers gefährdet gewesen sei. | |
Was an jenem Abend genau vorgefallen war, ließ sich nicht zweifelsfrei | |
aufklären, gab aber türkischen Zeitungen Anlass zu Spekulationen. In der | |
konservativen türkischen Presse kursierten Behauptungen, linksgerichtete | |
Migrant*innen hätten Banner mit Hammer und Sichel im Saal aufgehängt, | |
bei der deutschen Polizei sei ein anonymer Hinweis auf ein von | |
türkeistämmigen Dissidenten geplantes Attentat oder eine Entführung durch | |
die RAF eingegangen. | |
Die CHP warf Erdem vor, aus einem heraufbeschworenen Eklat Kapital für den | |
Wahlkampf schlagen zu wollen, und forderte seinen Rücktritt. Die | |
kemalistische Tageszeitung Cumhuriyet spottete, der Minister habe wohl | |
nicht damit gerechnet, in Europa mit linksgerichteten Migrant*innen | |
konfrontiert zu sein. | |
## Politisch aktiv, auch ohne Wahlrecht | |
Als Reaktion auf Erdems Anschuldigungen veröffentlichte die Föderation der | |
Türkischen Sozialisten in Europa (ATTF), zu dieser Zeit der größte | |
Zusammenschluss linksgerichteter Arbeiter*innen und Student*innen in | |
Europa, eine Erklärung zu den Geschehnissen in Frankfurt. Diese, so die | |
ATTF, seien frei erfunden. In Wirklichkeit sei Erdem durch die Fragen der | |
Arbeiter*innen überfordert gewesen, die er nicht, wie in der Türkei | |
gewohnt, zum Schweigen bringen konnte, und habe seine Reise deshalb | |
abgebrochen. Auch die deutsche Botschaft kam am Ende zu dem vorsichtigen | |
Schluss, es sei nicht undenkbar, dass der Arbeitsminister übertrieben habe, | |
um aus dem Drohszenario der „linksextremen Indoktrinierung“ von | |
Arbeitsmigrant*innen im Ausland politischen Nutzen zu ziehen. | |
Unabhängig davon, was in Frankfurt genau passiert war, zeigt dieser | |
Zwischenfall, dass türkische Politiker Arbeitsmigrant*innen in | |
Deutschland bereits 1973 als relevante Wählergruppe erkannt hatten – oder | |
zumindest als Wahlkampfthema. Denn aus dem Ausland wählen konnten | |
Migrant*innen damals nicht. Sie konnten ihre Stimme nur abgeben, wenn | |
sie zur Wahl in die Türkei reisten. Nach zeitgenössischen Schätzungen des | |
Sozialwissenschaftlers Yılmaz Özkan hätten in Westeuropa lebende | |
Migrant*innen aus der Türkei 25 bis 30 von 450 Parlamentsabgeordneten | |
gewählt, wenn sie ihre Stimme aus dem Ausland abgeben hätten können. Dass | |
sie nicht wählen konnten, bedeutete aber nicht, dass Migrant*innen nicht | |
politisch aktiv waren. | |
Bereits 1973 forderten Migrant*innen aus der Türkei ein transnationales | |
Wahlrecht und riefen alle Arbeitsmigrant*innen im Ausland dazu auf, | |
sich mit Wahlkampagnen und Kundgebungen im Ausland am türkischen Wahlkampf | |
zu beteiligen. Die ATTF kritisierte in einem Aufruf zur Wahl 1973, dass die | |
türkische Regierung Arbeitsmigrant*innen die Möglichkeit vorenthielte, | |
aus dem Ausland zu wählen. Der Grund war für die sozialistische Föderation | |
klar: Die Regierung ging davon aus, dass viele Arbeitsmigrant*innen | |
ihre Stimme nicht den konservativen Parteien, sondern linksgerichteten | |
Parteien geben würden. | |
## Erdoğan ermöglicht Wahl aus dem Ausland | |
„Dass sie uns kein Wahlrecht geben, bedeutet jedoch nicht, dass wir uns aus | |
dem Wahlkampf heraushalten“, heißt es in dem Aufruf. „Als ATTF rufen wir | |
alle unsere Bürger*innen auf, Wahlkomitees in ihren Städten zu gründen | |
und bei den Wahlen die eigenen Forderungen zur Sprache zu bringen.“ Um aus | |
dem Ausland Einfluss auf die Wahlen zu nehmen, forderte die ATTF | |
Migrant*innen auf, Kundgebungen zu organisieren und Verwandten und | |
Bekannten in der Türkei Briefe mit Wahlempfehlungen zu schicken. | |
An den Wahlen in der Türkei teilnehmen zu können, war für Migrant*innen | |
nicht nur deshalb bedeutend, weil sie in Deutschland kein Wahlrecht hatten. | |
Vor dem Anwerbestopp entwarfen viele Migrant*innen Pläne für eine | |
Zukunft in der Türkei. Was in der Türkei politisch passierte, war demnach | |
relevant für sie, auch wenn sie temporär nicht dort lebten. Weil der | |
Anwerbestopp die Reisefreiheit von Drittstaatsangehörigen einschränkte, | |
sahen sich viele türkeistämmige Migrant*innen vor die Wahl gestellt, in | |
Deutschland zu bleiben oder in die Türkei zurückzukehren. Da sich auch die | |
politische Gewalt in der Türkei im Laufe der 1970er Jahre immer weiter | |
zuspitzte, holten viele ihre Familien nach Deutschland. | |
Es sollten 41 Jahre vergehen, bis die türkische AKP-Regierung unter Recep | |
Tayyip Erdoğan in Deutschland Auslandswahllokale einrichtete. Mit der | |
Einführung eines transnationalen Wahlrechts folgte Erdoğan einer ähnlichen | |
Logik wie die Regierung 1973 unter umgekehrten Vorzeichen: Denn anders als | |
diese ging er davon aus, mit der AKP im Ausland eine Mehrheit der Stimmen | |
zu bekommen. Bei der Präsidentschaftswahl 2014 konnten türkische | |
Staatsbürger*innen erstmals in türkischen Konsulaten im Ausland wählen. | |
## Wahlkampfauftritte lenkten stets von Innenpolitik ab | |
Dazwischen lagen Jahrzehnte voller politischer Umbrüche. Der Anwerbestopp | |
1973, der Militärputsch in der Türkei 1980, die Rückkehrprämie 1983, die | |
Wende 1990, die rassistischen Anschläge in Mölln 1992 und Solingen 1993 | |
markierten Zäsuren, die sich alle darauf auswirkten, wo sich türkeistämmige | |
Menschen zugehörig fühlten, die seit Jahrzehnten in Deutschland lebten und | |
arbeiteten, aber nicht wählen durften. | |
Seit 2014 konnte die AKP durch Wahlkampfauftritte im Ausland viele Stimmen | |
mobilisieren. Bei den Parlamentswahlen am 24. Juni 2018 bekam die AKP in | |
Deutschland 55,7 Prozent, die CHP 15,6 und die HDP 14,8 Prozent der | |
Stimmen; bei der Präsidentschaftswahl am selben Tag lag Erdoğan mit 64,8 | |
Prozent deutlich vor seinem Konkurrenten Muharrem İnce von der CHP, der in | |
Deutschland 21,9 Prozent holte. | |
Eine Untersuchung der Universität Montreal von 2020 zeigt jedoch, dass die | |
in Auslandswahllokalen abgegebenen Stimmen wegen des geringen Anteils an | |
der Gesamtwählerschaft, der niedrigen Wahlbeteiligung und der relativ | |
kleinen Unterschiede zu den Wahlergebnissen in der Türkei nicht | |
wahlentscheidend waren. In der deutschen und türkischen Öffentlichkeit | |
blieben als wichtiger Faktor für Erdoğans Wahlsieg dennoch die | |
Wahlergebnisse aus Deutschland in Erinnerung. | |
Türkische Wahlkampfauftritte im Ausland lenkten, vor allem wenn sie | |
skandalträchtig waren, immer auch von innenpolitischen Problemen ab. Doch | |
nicht immer geht dieses Kalkül auf, wie ein Blick 50 Jahre zurück zeigt: Am | |
14. Oktober 1973 zumindest gewann nicht die konservative AP, sondern | |
überraschend der Oppositionsführer Bülent Ecevit mit der CHP die Wahlen. | |
Elisabeth Kimmerle hat Germanistik, Philosophie und Journalistik in | |
Freiburg, Leipzig und Istanbul studiert. Nach ihrem Volontariat bei der taz | |
hat sie als Co-Projektleiterin und Redakteurin bei dem deutsch-türkischen | |
Onlineprojekt der taz, taz.gazete, gearbeitet. Derzeit promoviert sie am | |
ZZF Potsdam zur Demokratisierung in der Türkei in transnationaler | |
Perspektive mit einem geschlechtergeschichtlichen Fokus. | |
Dieser Artikel ist am 3. Mai 2023 als Teil einer gemeinsamen Sonderbeilage | |
der taz Panter Stiftung und Reporter ohne Grenzen zum Tag der | |
Pressefreiheit erschienen. | |
3 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Wahlen-in-der-Tuerkei-2023/!t5908345 | |
[2] /Tuerkischer-Wahlkampf-in-Deutschland/!5393115 | |
## AUTOREN | |
Elisabeth Kimmerle | |
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