Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Ein Herrengedeck zur Geburt
> Als Vater Vater wurde, ging alles so schnell, dass er zur Beruhigung der
> Nerven und der Gäste in der Kneipe zwei Lokalrunden geben musste.
Am Mittwoch werde ich schon wieder ein Jahr älter. Dabei kann ich mich noch
gut an meine Geburt erinnern – zwar nicht wirklich, aber meine
Verwandtschaft hat mir die Geschichte oft genug erzählt. Mein Vater habe am
Tag meiner Geburt mit dem Trinken angefangen, hieß es. Und das sei so
gekommen: Als bei meiner Mutter die Wehen einsetzten, brachte er sie zum
St. Monikastift in Berlin-Lankwitz.
Im Jahr 1899, also weit vor meinem Geburtsjahr, hatten Katholiken ein
„Wöchnerinnenheim für die Niederkunft und das Wochenbett von
unverheirateten, jungen Frauen und deren moralische und sittliche
Festigung“ gegründet. Damals wurde in den Villenvierteln am Rande Berlins
Personal benötigt. Tausende junger Mädchen vom Land kamen in die Stadt, um
als Hausangestellte zu arbeiten. Da viele unerfahren und leichtgläubig
waren, wurden sie ungewollt schwanger, standen dann mittellos da und
suchten Hilfe bei katholischen Seelsorgern.
1925 übernahmen die Vinzentinerinnen die „Wöchnerinnen-Zuflucht zur
heiligen Monika“, 1947 wurde das Entbindungsheim um eine
gynäkologisch-chirurgische Abteilung erweitert, 1966 wurde es geschlossen.
Zwischendurch kam ich dort auf die Welt, obwohl meine Eltern evangelisch
waren.
Nachdem mein Vater meine Mutter abgegeben hatte, ging er nach Hause, denn
Väter waren bei der Geburt nicht erwünscht. So lief er vom St. Monikastift
in der Kiesstraße über die Kurfürsten-, Froben- und Seydlitzstraße zur
Havensteinstraße 44, wo meine Eltern im ersten Stock wohnten. Der Fußweg
dauert eine Viertelstunde.
Kurz vor dem Wohnhaus stand eine Telefonzelle. Mein Vater rief im St.
Monikastift an, weil er wissen wollte, ob meine Mutter noch irgendetwas
brauchte. „Es ist ein Junge“, jubelte die Krankenschwester. „Unsinn“,
entgegnete mein Vater. „Ich habe meine Frau doch eben erst abgegeben.“ So
schnell war ich später nie wieder.
Statt nach Hause zu gehen, suchte mein Vater das nächste Wirtshaus auf und
bestellte sich ein Berliner Herrengedeck nach dem anderen: Molle mit Korn.
Während er trank, notierte er sich auf einem Zettel Dinge, die er am
nächsten Tagen erledigen wollte. Irgendwann musste er auf die Toilette.
Plötzlich hämmerte jemand an die Klotür, Männer riefen: „Tun Sie es nicht!
Kommen Sie raus!“
Die Leute glaubten, mein Vater wolle sich umbringen und habe einen
Abschiedsbrief auf dem Tresen hinterlassen. Nachdem er ihnen erklärt hatte,
dass er gerade Vater geworden sei und keineswegs Suizid begehen wollte,
musste er zwei Lokalrunden bestellen, was er mir später aufs Brot
schmierte. „Du hast mich schon eine Stunde nach deiner Geburt eine Stange
Geld gekostet“, meinte er. „Und gar nicht zu reden von den 34 Semestern an
der FU Berlin.“
Wie bereits erwähnt: So schnell wie bei meiner Geburt war ich danach nie
mehr.
3 Apr 2023
## AUTOREN
Ralf Sotscheck
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Väter
Geburt
Kneipe
Irland
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Irisches Latein
Die Sprache der Römer erhielt ihre schriftliche Form auf der Grünen Insel –
kurz vor der Geburt des Autors, der mit ihr immer auf Kriegsfuß stand.
Die Wahrheit: Blasenschwache Krönungsfeier
Das Ereignis des Jahres – und Meghan kommt nicht. Ein Wunsch wurde dem
neuen englischen König Charles III. zu seinem glanzvollen Fest schon
erfüllt.
Die Wahrheit: Fruchtsaftpräsident in klarem Wasser
Ausgerechnet in einem irischen Pub trat Joe Biden, der stocknüchterne
Besuch aus Übersee, ins Fettnäpfchen.
Die Wahrheit: Der Chianti-Krieg
Irland will wieder Gesundheitsmusterknabe in Europa sein. Wie auf
Zigarettenschachteln sollen auch auf Bier-, Wein- und Schnapsflaschen
Warnhinweise.
Die Wahrheit: Bombige Kampagne in Kyjiw
Am irischen Nationalfeiertag düsen irische Politiker lieber nach Übersee.
Dabei wären sie in der Ukraine ganz gut aufgehoben.
Die Wahrheit: Hochmoderne Zeiten
Frauen und Rechte – Irland nahm es damit lange Zeit nicht sehr genau bis
gar nicht. Eine Bestandsaufnahme und ein Blumenstrauß.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.