# taz.de -- Nachruf auf Irene Stoehr: Unideologisch und eigen | |
> Irene Stoehr hat viel dazu beigetragen, dass die Gleichberechtigung von | |
> Männern und Frauen ein nicht zu ignorierendes Thema ist. Ende Februar ist | |
> sie gestorben. | |
Bild: Mit dem Mut, radikal mit den Erwartungen zu brechen: Irene Stoehr | |
Es dauerte, bis Irene Stoehrs Widerspruchsgeist, ihr Eigensinn und | |
Eigenwille geschätzt wurden. Und ihr trockener Humor. Sie hatte etwas | |
Eckiges, Anecken war ihr nicht fremd. Aber am Ende ihres Lebens zeigten | |
ihre vielen Weggefährtinnen und -gefährten, dass sie ihr in Freundschaft | |
und Liebe verbunden sind. Sie mussten gar nicht gegenwärtig sein. Zu | |
wissen, dass sie da waren, reichte Irene Stoehr. | |
Ende Februar ist sie mit 82 Jahren gestorben. Jetzt fehlt wieder eine, ohne | |
die die Frauenbewegung der 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts | |
nicht so eine Kerbe in die Gesellschaft hätte schlagen können. Ohne die | |
nicht all jene Themen auf die Tagesordnung gekommen wären, die zeigen, dass | |
die Gleichberechtigung der Frauen eine Menschenrechtsfrage ist. | |
Irene Stoehr wurde 1941 in Niederschlesien geboren. Sie war vier Jahre alt, | |
als ihre Großmutter und Mutter mit ihr und ihrer Schwester von dort | |
Richtung Westen flohen. „Die Flucht muss gruselig gewesen sein“, sagte sie | |
vor Jahren [1][in der taz]. | |
Stoehr wuchs in Berlin auf. Obwohl eine Trümmerstadt, fand sie, dass ihre | |
Kindheit in Ordnung gewesen sei. Ihr Vater, Willy Beer, war Journalist. Er | |
lud in den 50er Jahren mitunter auch Frauen zu ihnen nach Hause ein, die | |
ihr weniger angepasst erschienen als ihre Mutter. Das muss sie beeindruckt | |
haben. Die Frauen und ihre Rolle, nicht nur die in den 50er Jahren, ließen | |
sie fortan nie wirklich los. Ihr Forschungsgebiet nach dem Soziologie- und | |
Politikstudium wurde die Geschichte der deutschen Frauenbewegung zwischen | |
1890 und 1990. | |
## Brodeln unter der Oberfläche | |
Nach dem Studium schien es, als würde sie einen gradlinigen Lebensweg | |
gehen, mit Heirat, mit einer Professur in Hildesheim. Aber unter der | |
Oberfläche brodelte es. Wer sich mit der Rolle der Frau beschäftigte, ging | |
in den 70er Jahren fast zwangsläufig auf die Barrikaden. So viele Rechte | |
waren den Frauen damals noch verwehrt. Stoehr jedenfalls hatte den Mut, | |
radikal mit den Erwartungen zu brechen. Sie verliebte sich in eine Frau, | |
kündigte ihre Professur, tauschte sie gegen eine befristete Assistenzstelle | |
am Otto-Suhr-Institut in Berlin ein. Aus vorgefertigten Mustern ausbrechen, | |
das konnte sie gut. | |
In Berlin gehörte sie zur Gruppe, die die erste Frauensommeruni 1976 | |
organisierte. 5.000 Frauen kamen. Es war wichtig damals, sich diesen Raum | |
zu nehmen und sämtliche gesellschaftliche Themen radikal aus weiblicher | |
Perspektive zu sezieren. Später war Stoehr Teil des Redaktionskollektivs | |
der feministischen Zeitschrift [2][Courage], die anders als die zeitgleich | |
entstandene [3][Emma] „zumindest vom Anspruch her offen, experimentell, | |
plural und relativ basisdemokratisch“ war, wie Stoehr sagte. Die Courage | |
ging 1984 ein. | |
Stoehr studierte die Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts mit deren | |
verschiedenen Strömungen genau. Da war die proletarisch-sozialistische | |
Frauenbewegung, Clara Zetkin war die wichtigste Vertreterin. In deren Fokus | |
stand es, die Lebenswirklichkeit armer Frauen zu verbessern. Dann gab es | |
die bürgerliche Frauenbewegung, die in zwei Lager fiel. In ein radikales, | |
gleiche Rechte in allen Belangen forderndes, und in ein gemäßigtes Lager, | |
das die Rolle der Frau auch in Bezug auf ihr Geschlecht und ihre | |
Mutterrolle im Blick behielt. | |
Die Frauenbewegung der 70er und 80er Jahre war nicht unideologisch und | |
fühlte sich dem radikal-bürgerlichen Flügel verbunden. Stoehr jedoch nicht. | |
Sie verteidigte den gemäßigten Flügel und der Shitstorm begann. Sie | |
vertrete den NS-Mutterkult, wurde ihr vorgeworfen. Einen schlimmeren | |
Vorwurf gab es damals kaum. Stoehr hielt Stand. Wurde es ihr dennoch zu | |
viel, zog sie sich zurück, streifte durch die Wälder. Sie sei gern mit sich | |
allein gewesen, sagen Freundinnen. | |
Später beschäftigte Stoehr ein weiteres Thema, das bis heute hochaktuell | |
ist: dass der Kapitalismus nämlich ungehindert auf die unbezahlte Haus- und | |
Reproduktionsarbeit von Frauen zurückgreift, und diese in sein Profitkalkül | |
einbindet. | |
Stoehr suchte bei ihren Forschungen nicht so sehr das, was schnell | |
einleuchtet. Wie ihre Themen wollte auch sie unbequem sein, aber doch auch | |
nicht so sehr, dass es sie einsam gemacht hätte. Und sie wollte niemals | |
ihre Autonomie verlieren. Im Denken nicht, im Handeln nicht, und auch nicht | |
auf ihren Körper bezogen. Bis zuletzt genoss sie das Leben trotz ihres | |
Kampfes gegen den Krebs. Erst die letzten zehn Tage vor dem Tod sei es | |
bergab gegangen, meint eine Wegbegleiterin. „Ich bin immer so müde“, habe | |
Stoehr gesagt. Gestorben ist sie allein in ihrer Wohnung. Freundinnen | |
fanden sie tags darauf. | |
16 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Der-Hausbesuch/!5593568 | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Courage_(Zeitschrift) | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Emma_(Zeitschrift) | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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