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# taz.de -- Verringerung von Armut: Was die Forschung sagt
> In der Armutsforschung stehen mehrere Methoden im Wettbewerb. Darunter:
> bedingungslose Geldtransfers, Mikrokredite und Bildungsmigration.
Bild: Mohammed Rasheed aus Hyderabad bekam einen Minikredit um zu schneidern
Extreme Armut ist zutiefst unfair. Wer in einem Kontext extremer Armut
geboren wird, kann nichts dafür und hat dennoch unzählige Hürden vor sich:
Es ist fast unmöglich, sich gesund zu ernähren, und extrem arme Menschen
leiden häufiger unter schlechter psychischer Gesundheit. Weltweit sind
schätzungsweise 685 Millionen Menschen betroffen, die von weniger als 2,15
US-Dollar pro Tag leben – angeglichen an die Kaufkraft des jeweiligen
Landes. Sie haben also weniger zur Verfügung als das, was sich ein*e
US-Amerikaner*in von 2,15 Dollar in den USA kaufen kann.
Das Gute: Große Teile der Welt sind im vergangenen Jahrhundert der extremen
Armut entkommen. Wie das vonstatten gegangen ist und vor allem wie sich das
heute auf Länder mit weiterhin niedrigem Einkommen übertragen lassen
könnte, ist weitgehend unklar. Es ist extrem kompliziert herauszufinden,
was genau warum wann wo funktioniert hat. Dennoch gibt es viele teilweise
gut und teilweise unzureichend erforschte Ideen, wie zumindest auf dem
individuellen Level mehr Einkommen und damit hoffentlich ein besseres Leben
möglich ist.
Seit Anfang der 2000er hält ein revolutionärer Gedanke Einzug in die
Sozialwissenschaften. Wissenschaftler*innen begannen zunehmend eine
Methode anzuwenden, die bislang vor allem aus der Medizin bekannt war: die
randomisierte kontrollierte Studie. Dabei werden mindestens zwei Gruppen
untersucht. Eine, die die Intervention erhält, wie zum Beispiel
Moskitonetze zum Schutz vor Malaria, und eine Kontrollgruppe, bei der nur
Daten gesammelt werden. So lässt sich besser unterscheiden, was zufällige
Veränderungen sind und was die Intervention tatsächlich bewirkt hat. Durch
mehrere Studien dieser Art konnten Forschende zum Beispiel feststellen,
dass die kostenfreie Verteilung von Moskitonetzen dazu führt, dass viel
weniger Menschen in Malariagebieten an der Krankheit sterben. Seitdem
wurden schätzungsweise Hunderte Millionen Krankheitsfälle auf der Welt
verhindert.
## Neue Sicht auf Armut
Die drei „Randomistas“ Esther Duflo, Michael Kremer und Abhijit Banerjee
erhielten für ihre radikal neue Sicht auf Armut und
Entwicklungszusammenarbeit 2019 den Wirtschaftsnobelpreis. Als diese Idee
noch recht frisch war, wurde etwa zeitgleich ein anderer Ansatz zur
Verbesserung der Lebensumstände armer Menschen mit dem Friedensnobelpreis
ausgezeichnet. Der bengalische Wissenschaftler Mohammad Yunus erhielt die
prestigeträchtige Auszeichnung 2006 für seine Idee der Mikrokredite.
Warum nicht einfach armen Menschen unkompliziert kleine Summen Geld leihen,
damit sie ihre eigenen Unternehmen vergrößern können, wenn es ohnehin schon
unzählige Unternehmer*innen unter ihnen gibt? Zahlreiche Menschen in
Ländern mit niedrigem Einkommen verdienen ihr Geld als Selbstständige. Sei
es als Landwirt*innen in ländlichen Gebieten oder als
Ladeninhaber*innen in Städten.
Das Narrativ von Yunus’ Idee der Mikrokredite ist attraktiv. Der Haken an
der Sache ist, dass es offenbar nicht funktioniert. Zumindest nicht zur
Verringerung von Armut. Die Auswertung von sechs randomisierten Studien
zeigt etwa, dass Einkommen und Konsum der Haushalte durch Mikrokredite
nicht signifikant steigen. Einkommen und Konsum sind bei Menschen in Armut
zwei wichtige Indikatoren für den Lebensstandard. Ein Erklärungsansatz ist,
dass Menschen in Armut tendenziell nicht deshalb zu Unternehmer*innen
geworden sind, weil es ihre Leidenschaft ist, sondern aus Mangel an guten
Alternativen. Sie wollen ihr Business nicht wachsen lassen, sie haben
keinen inneren Drang, aus ihrem familiengeführten kleinen Geschäft eine
Firma mit mehreren Mitarbeitenden zu machen.
## Bedingungsloser Geldtransfer
Der Grundgedanke, Menschen in extremer Armut mehr Möglichkeiten zu
verschaffen, damit sie ihr Leben besser selbst gestalten können, ist auch
Prämisse bei einer anderen, durch die Randomistas sehr beliebt gewordenen
Maßnahme der Armutsverringerung: bedingungslose Geldtransfers. Die Idee
beruht auf einer einfachen wie bestechenden Erkenntnis. Wer arm ist, hat
kein Geld. Wer arm ist, braucht Geld, um nicht mehr arm zu sein. Und wer
arm ist, weiß selbst am besten, wofür er*sie Geld benötigt. Also erhalten
Menschen in extremer Armut Geld. Ganz ohne Bedingungen. Sie können
entscheiden, wofür sie das Geld verwenden, zurückgeben müssen sie es nicht.
Der in Stockholm lehrende Armutsökonom Johannes Haushofer hat mehrere
randomisierte Studien zur Wirksamkeit bedingungsloser Geldtransfers
durchgeführt. Er beschreibt sie als Maßnahme, die den Empfänger*innen
ihre „Würde“ lasse: „Ich fand daran sehr attraktiv, dass sie selbst
Entscheidungen treffen können. Dass man sie wie Erwachsene behandelt, die
selbst am besten wissen, was sie brauchen.“ Bislang konnten zahlreiche
Studien zeigen, dass Geldtransfers extrem positive Auswirkungen haben.
Empfänger*innen geben das Geld mitnichten für Alkohol und Zigaretten
aus, um einer typischen Sorge vorzugreifen. In Studien zeigte sich, dass
Empfänger*innen beispielsweise in Kühe investierten, deren Milch sie
verkaufen konnten. Sie litten weniger Hunger als vorher, und ihre
psychische Gesundheit wurde besser.
Das berichtet Haushofer, schränkt zugleich aber ein: „Was die Geldtransfers
vielleicht nicht können, ist, nachhaltig Haushalte oder Dörfer aus der
Armutsfalle rauszuheben.“ Denn langfristig führten diese einmaligen
Geldtransfers nach aktuellem Forschungsstand nicht dazu, dass sich der
Lebensstandard der Empfänger*innen stark verbessert. „Das von den
Transfers zu erwarten, ist ein bisschen viel verlangt. Mir fällt auch keine
andere Intervention ein, die das kann.“ Aber selbst wenn der positive
Effekt länger andauern würde: „Die Leute fangen bei einem Dollar am Tag an,
und nach dem Geldtransfer verdienen sie 1,10 oder 1,20 Dollar am Tag.“
## Hilfe durch Bildungsmigration
Was wäre, wenn stattdessen viel größere und nachhaltigere
Einkommenssteigerungen möglich wären? Haushofer untersucht inzwischen, ob
das durch Bildungsmigration erreicht werden kann. Unterschiede beim
Einkommen über die Ländergrenzen hinweg erklären schließlich einen großen
Teil der globalen Einkommensunterschiede, wie er sagt. Er hat seither die
Organisation Malengo gegründet, die Hochschulabsolvent*innen aus
Uganda zum Studieren für englischsprachige Studiengänge nach Deutschland
bringt und ihnen im ersten Jahr die Lebenshaltungskosten finanziert. Rund
20 Malengo-Stipendiat*innen leben und studieren bereits in
Deutschland. Dieses Jahr sollen 100 weitere dazukommen. Was sie nach ihrem
Studium machen, ist ihnen freigestellt.
Die Studierenden schicken bereits jetzt viel Geld nach Uganda, „und zwar in
Größenordnungen, die das Einkommen der Haushalte dort dramatisch
verbessert“, sagt Haushofer. Außerdem wollen viele nach ihrem Studium in
Deutschland bleiben, wo sie ein viel höheres Einkommen erwartet, als sie es
in Uganda hätten. Oder sie gehen zurück nach Uganda und bringen ihre
Kenntnisse aus dem Studium dort ein.
Die Studierenden müssen neben ihrem Studium, der Suche nach einem Nebenjob
und den zahlreichen Schwierigkeiten in einem neuen Land auch noch Deutsch
lernen. Je nachdem, wie gut ihnen das gelingt, ist fraglich, wie leicht
ihnen nach dem Studium die Jobsuche hier fallen wird. Insgesamt ist die
Methode noch zu neu, als dass bereits klar sein könnte, wie gut die
Migration den Studierenden und ihren Familien langfristig helfen wird, und
vor allem, ob sie effektiver ist als andere bereits gut untersuchte
Methoden.
10 Mar 2023
## AUTOREN
Sarah Emminghaus
## TAGS
Armutsforschung
Hilfsgelder
Arbeitsmigration
Schwerpunkt Armut
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Familie
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