# taz.de -- Der Krieg aus Sicht von Jugendlichen: Lieber nicht drüber sprechen | |
> Vor einem Jahr hatte eine Schule in Bremen der Opfer des Kriegs gedacht. | |
> Gewöhnt hat sich niemand daran, auch wenn es erst so aussieht. Ein Besuch | |
Bild: Für die taz haben sich Schüler:innen mit einer Lehrerin und einem Lehre… | |
Bremen taz | Der Ausdruck der Gesichter ist jetzt anders. Das ist das, was | |
am meisten auffällt. Vor elf Monaten [1][war ich schon einmal hier an der | |
Oberschule an der Kurt-Schumacher-Allee] in Bremen-Vahr, zwei Wochen nach | |
Kriegsbeginn. Die Oberstufen-Schüler:innen hatten mit Unterstützung des | |
Politiklehrers Jens Winter mit Musik und Reden der Menschen im Krieg | |
gedacht, Schulleiter Christian Sauter warnte vor nationalistischem Hass. | |
Er hatte Sorge, dass der Krieg auf dem Schulhof ausgetragen würde. Denn in | |
der Vahr leben so viele Menschen mit russischem Migrationshintergrund wie | |
in keinem anderen Stadtteil Bremens und überdurchschnittlich viele aus | |
anderen ehemaligen Sowjetrepubliken – auch aus der Ukraine. | |
Nach der Gedenkstunde hatten wir in einer vom Politiklehrer improvisierten | |
Gesprächsrunde zusammengesessen, vier Schüler, eine Schülerin und die | |
Lehrerin Viktoriia Donchuk, die schon vor zehn Jahren aus dem von Russland | |
besetzten Donbass nach Deutschland gekommen ist. Ernst hatten sie | |
ausgesehen, die fünf jungen Menschen zwischen 16 und 19 Jahren. Viktoriia | |
Donchuk hatte nicht mit uns am Tisch gesessen, sondern am Fenster | |
gestanden, zwischen ihren Augenbrauen eine Furche. | |
Jetzt, [2][kurz vor dem Jahrestag des Krieges], sitzen wir wieder zusammen, | |
in anderer Zusammensetzung; in einem Klassenraum im Stuhlkreis und nicht | |
wie damals im Foyer des Oberstufengebäudes. Ein paar Schüler:innen aus | |
Jens Winters Politikkurs sitzen in zweiter Reihe um uns herum. Viktoriia | |
Donchuk macht einen entspannten Eindruck, ihre Stirn ist glatt. | |
## Große Angst um den Vater | |
Alex, 18 Jahre alt, hat vor einem Jahr mit hängenden Schultern zwischen | |
seinen Mitschüler:innen gesessen und kaum aufgeschaut. Er, der wie alle | |
Schüler:innen in diesem Text anders heißt, ist immer noch sehr still, | |
aber er lächelt und zeigt sein Gesicht. Damals war sein aus Usbekistan | |
stammender Vater als Kriegsreporter in Kyiv, Alex hatte große Angst um ihn | |
gehabt. Jetzt ist der Vater wieder in Bremen, genau wie die Großmutter und | |
der Vater der ukrainischen Lehrerin. Nur ihr Onkel ist mit 58 Jahren noch | |
zu jung, er darf nicht ausreisen. | |
Zwei der vier Schüler vom vergangenen Jahr haben mittlerweile die Schule | |
verlassen. Vom vergangenen Mal dabei sind noch der 17-jährige Mateusz mit | |
polnisch-ukrainischen Vorfahren sowie die 18-jährige Mariam. Mariams Cousin | |
lebt im Heimatland ihrer Eltern, Tschetschenien, das zur Russischen | |
Föderation gehört. Er sei aber trotzdem von Russland als Soldat eingezogen | |
worden, sagt Mariam. Sie sitzt heute ruhiger auf ihrem Stuhl als vor einem | |
Jahr, sie checke nicht mehr pausenlos ihr Handy, ob es eine Nachricht von | |
ihm gibt, sagt sie. Obwohl er immer noch zu Kriegseinsätzen muss. | |
Neu dabei sind an diesem grau-verregneten Donnerstag Mitte Februar Mariams | |
Freundin Anja, deren Familie aus mehreren ehemaligen Sowjetrepubliken | |
stammt, darunter Russland, und Thomas, dessen Vater aus Kasachstan und | |
dessen Mutter aus Russland kommt. Anja erzählt auf Bitten ihres Lehrers | |
Jens Winter von ihrer Clique. Die einen hätten Verwandte in der Ukraine, | |
die anderen in Russland. „Wir diskutieren nicht über Politik“, sagt Anja, | |
„wir sind uns einig, dass der Krieg scheiße ist, egal, woher jemand kommt.“ | |
Und dann ist da noch Maria, eine 17-Jährige, die mit ihrer Mutter und ihrer | |
Lehrerin aus dem Süden der Ukraine geflohen ist. Sie hat Schatten unter den | |
Augen, lächelt kaum und wirkt ernst und bedrückt. Sie spricht sehr gut | |
Deutsch und hat durchgesetzt, dass sie direkt in die elfte Klasse gehen | |
kann und nicht erst einen Vorkurs zum Deutschlernen besuchen muss. „Sie ist | |
sehr hartnäckig und durchsetzungsstark“, hatte mir der Politiklehrer Jens | |
Winter im Rektorenzimmer vor dem Gespräch mit den Schüler:innen erzählt. | |
Sie hat damit sowohl ihn als auch den Schulleiter sehr beeindruckt, das ist | |
ihnen anzumerken. | |
Maria sagt oft: „Alles gut“, etwa auf die Frage, ob es ihr nicht zu viel | |
werde, wenn sie für ihre Mutter und Nachbarinnen übersetzen muss. Etwa 20 | |
Personen helfe sie auf diese Weise, sagt sie. „Alles gut.“ Aber sie sagt | |
auch, dass der Krieg ein Tabuthema sei, wenn sie mit ihren Freund:innen | |
in der Ukraine telefoniere, weil es so traurig mache, darüber zu sprechen. | |
## Ihre Freundinnen sind in der Ukraine | |
„Habt ihr das Wort: tabu?“, fragt sie leise und blickt Viktoriia Donchuk, | |
die Lehrerin, an. Die nickt. „Wir wollen nicht darüber sprechen“, sagt sie, | |
lieber über andere Themen, die Jugendliche in dem Alter eben bewegen, so | |
wie es auch Anja vorhin gesagt hat. Marias Vater lebt noch in ihrer | |
Heimatstadt, die sich direkt an der Front befindet, sowie einige ihrer | |
Freund:innen. Eine will sie im April besuchen kommen, allein. | |
Nicht allen geflüchteten Kindern und Jugendlichen ist die Belastung so | |
deutlich anzumerken. Eine Stunde zuvor hatte ich eine Klasse besucht, in | |
der 14 Zehn- bis Sechzehnjährige gemeinsam Deutsch lernen. Auch sie sind – | |
meistens mit ihren Müttern – im vergangenen Jahr aus der Ukraine geflohen. | |
Demnächst sollen sie auf die Klassen verteilt werden. Die meisten von ihnen | |
sind ziemlich lebhaft, ihre Lehrerin, ebenfalls aus der Ukraine geflohen, | |
ermahnt sie immer wieder zur Ruhe, wenn sie sich mit ihren | |
Sitznachbar:innen unterhalten. | |
Die Lehrerin muss viel übersetzen, sowohl meine Fragen als auch die | |
Antworten. Zwischendurch schreibt sie neue, in diesem Gespräch gelernte | |
Vokabeln an die Tafel. Die Schüler:innen erzählen von Hobbys, und ob sie | |
diese auch hier in Bremen ausüben können. Einer 14-Jährigen ist das | |
Volleyball-Team, in dem sie hätte mitspielen können, nicht gut genug. Eine | |
Elfjährige hätte gern Klavierunterricht an der Musikschule, steht aber nur | |
auf der Warteliste. Eine ist im Judo-Verein, ein anderer lernt Gitarre an | |
der Musikschule, ein Junge möchte Basketball lieber nur auf der Straße | |
spielen, nicht im Verein. | |
Dann sprechen wir kurz darüber, was sie in Deutschland gut finden und was | |
ihnen nicht gefällt. Keine Termine bei Ärzt:innen ist ein wiederkehrendes | |
Thema und dass man für so viele Medikamente ein Rezept brauche. Als eine | |
Zehnjährige auf Deutsch sagt, in Deutschland lebten „gute und lustige | |
Menschen“, widerspricht eine 14-Jährige und schimpft auf die Geflüchteten | |
aus anderen Ländern, die nicht gut zu den ukrainischen Geflüchteten seien. | |
So übersetzt es die Lehrerin. | |
## Der beste Freund ist gefallen | |
Bisher hätte sich seine Befürchtung von damals, der Krieg werde auf die | |
Schüler:innen übergreifen, nicht bestätigt, hat morgens Schulleiter | |
Christian Sauter gesagt, bevor er in eine Klasse eilte. Deshalb habe ihn | |
der Titel meines taz-Artikels „Der Krieg auf dem Schulhof“ gestört, er sei | |
oft darauf angesprochen worden. | |
Die Zeitungsseite hängt in einer Ecke des Treppenhauses im | |
Oberstufengebäude an einer Pinnwand, eine der wenigen sichtbaren | |
Erinnerungen an die Situation vor einem Jahr. Wenn man heute das | |
Hauptgebäude der Schule betritt, fällt der Blick als Erstes auf eine von | |
den Schüler:innen gestaltete Stellwand zu den Erdbebenopfern in der | |
Türkei und in Syrien. | |
Der Schulleiter sagt noch, er hoffe, es bleibe friedlich, wenn demnächst | |
die ukrainischen Schüler:innen aus dem Vorkurs in die Klassen wechseln. | |
Als ich der Lehrerin Viktoriia Donchuk von dem Disput über die Geflüchteten | |
aus anderen Ländern erzähle, sagt sie: „Da haben wir noch viel zu tun.“ U… | |
sie sagt, dass sie sich zwar an den Krieg gewöhnt habe und nicht ständig | |
daran denke könne, weil nur so ein Weiterleben möglich sei. „Man kann aber | |
nicht sagen, dass es mir besser geht“, sagt sie. Im Mai ist ihr bester | |
Freund in der Ukraine gefallen. | |
26 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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