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# taz.de -- Wintersport im Fernsehen: Am virtuellen Kamin
> Die Bilder, welche der Wintersport derzeit produziert, sind zum
> Wegschauen. Früher sorgten sie zumindest noch für dumpfe Behaglichkeit.
Bild: Kontemplative Beschäftigung: Skispringern beim Fliegen zusehen
Im Allgäu gibt es einen Brauch, der sich Christbaumloben nennt. Nach
Weihnachten geht man zu den Nachbar*innen, besieht sich deren geschmückte
Weihnachtsbäume, spricht ein paar freundliche Worte (was im Allgäu eben als
freundlich gilt, „scho rät“ zum Beispiel oder „daugt“) und bekommt daf…
Schnaps und ein Bier dazu, damit man den Schnaps herunterspülen kann. Die
Kinder bekommen Kakao und Lebkuchen und werden sich selbst überlassen.
Mindestens die Zeit bis Dreikönig ist so mit reger sozialer Aktivität
gefüllt. Im Hintergrund, so kenne ich das aus meiner Kindheit, [1][läuft
Wintersport,] irgendwer rennt mit seinen Skiern im Kreis, irgendjemand
springt von einem Berg ins Tal, jemand anderes lässt sich in seinem Bob
eine halsbrecherische Bahn hinabgleiten. Draußen rieselt der Schnee,
drinnen kreist die Flasche, und im Fernsehen sieht man die erschöpften
Gesichter von Menschen, denen weniger schnell kalt ist als etwa mir.
Die Kameraleute taten uns den Gefallen und flochten Landschaftsbilder mit
in ihre Reportagen, hier mal ein Eiszapfen, der von einer Tanne hängt, da
ein verschneiter Waldhügel. All das strahlte eine dumpfe Behaglichkeit aus,
die genauso langweilig wie erholsam ist. Auf diese Art habe ich Wintersport
gesehen: der Fernseher als virtueller Kamin, vor dem man sich dumpf
niederlässt und dann flackern die Ereignisse wie leise züngelnde Flammen an
einem vorbei, ohne dass sie viel bedeuten müssen.
[2][Die Bilder, die der Wintersport jetzt produziert,] sind freilich andere
als noch vor 20 Jahren. Überall stehen Schneekanonen, im Hintergrund grünen
die ersten Wiesen oder matschen vor sich hin. Von der aktuellen WM habe ich
nicht eine Minute gesehen, weder Ski noch Biathlon, weil das Mitleid mit
der zum Winterwonderland verunstalteten Natur jene leise Behaglichkeit von
früher übertüncht.
## Sinnfreies, 80 Mal am Stück
Die Asien-Winterspiele 2029 wurden kürzlich nach Saudi-Arabien vergeben.
Der ganze Komplex, in dem das stattfinden soll, muss erst noch gebaut
werden: von dem Geld, das damit verdient wurde, frühere Wintersportgebiete
schneefrei werden zu lassen.
Mit das Ödeste am Wintersport waren die Skisprungwettbewerbe: Leute sitzen
auf einer Bank, jemand wedelt mit einer Fahne, sie fahren die Schanze
runter, springen ab, oh, ein Vogel-V! Und dann landen sie. Der eine
schüttelt den Kopf, die andere reißt den Arm zum Himmel, warum, ist nicht
immer ganz klar. Das kuckt man sich 80 Mal am Stück an und dann hat die
Seele Ruhe. Es hat etwas sehr Kontemplatives, weil völlig Sinnfreies.
Jetzt aber, da kaum mehr irgendwo ausreichend Schnee liegt, braucht es
diese Stimmigkeit nicht mehr. Also kann man auch da immer größer und wilder
denken. Sandro Pertile, der Renndirektor fürs Skispringen, will deswegen
auch, dass sein Sport die Formel 1 zum Vorbild nimmt; [3][globaler muss es
werden], auf jedem Kontinent sollen Leute von sehr weit oben irgendwohin
sehr weit unten hüpfen.
Für den Biathlon gibt es ähnliche Pläne: Skier mit Rollen dran und dann
durch irgendeine Innenstadt jockeln. Eric Lesser hat davon neulich in einem
Zeit-Interview geträumt: „Weltcup in Downtown München!“ Der Wintersport
emanzipiert sich vom Winter. Wobei: Das wäre vielleicht gar nicht so
schlecht, dann wäre zumindest für ein Wochenende diese „Downtown“ autofre…
Und mir, dem das Besinnliche fehlt, bleibt dann immer noch Snooker.
16 Feb 2023
## LINKS
[1] /Wintersport-im-Fernsehen/!5474288
[2] /Zukunft-des-Skiports/!5905315
[3] /Zukunft-der-Vierschanzentournee/!5901563
## AUTOREN
Frédéric Valin
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