# taz.de -- Schach und nationale Begeisterung: Wieder diese Deutschtümelei | |
> Vincent Keymer ist 18 Jahre alt, ein talentierter Schachspieler und ein | |
> angenehmer Zeitgenosse. Doch Begeisterung erntet er, weil er Deutscher | |
> ist. | |
Bild: Schnellschach-WM in Kasachstan: Vincent Keymer (re.) gegen Weltmeister Ma… | |
Natürlich seien zehn Deutsche dümmer als fünf Deutsche, sagte einst Heiner | |
Müller, und leider merkt man das auch im Sport. Es gibt diese | |
Nischensportarten, da kann man sich mit einer kleinen feinen Bubble | |
arrangieren, auch wenn man sonst kaum Ansichten oder Werte teilt. Es hat | |
etwas Exklusives, zusammen über Badminton oder Rugby zu fachsimpeln, das | |
überdeckt auch unterschiedliche Vorstellungen von einer idealen Welt. | |
Voraussetzung ist allerdings immer: keine Deutschen unter den Sieger*innen. | |
Die deutsche Sportberichterstattung ist bis auf wenige Ausnahmen zuerst | |
deutsch und dann Sportberichterstattung. Das liegt freilich daran, dass das | |
deutsche Publikum in der Masse zuerst deutsch ist und dann erst | |
interessiert. Wer über eine Nischensportart schreibt, kann ein breiteres | |
Publikum dann erreichen, wenn er auf den Deutschland-Train springt. Das | |
funktioniert beim Tennis, beim Boxen, beim Darts. | |
Beim Schach vermutlich nicht, dafür ist der Sport doch zu klein. Das heißt | |
aber nicht, dass es nicht versucht wird. Jene Rolle, die woanders Boris | |
Becker, Steffi Graf, Henry Maske oder Gabriel Clemens zufällt, wäre hier | |
für Vincent Keymer vorgesehen. Er ist Teil jener Generation, die in den | |
nächsten zehn Jahren den besten Schachspieler aller Zeiten, [1][Magnus | |
Carlsen], beerben wird. Zu dieser Generation zählen auch Alireza Firouzja, | |
Nordirbek Abdusattorov, Nihal Sarin, Arjun Erigaisi, Rameshbabu | |
Praggnanandhaa, Christopher Yoo und Dommaraju Gukesh. | |
Aktuell ist enorm viel Bewegung in diesem Spiel, weil sich dieser | |
Generationenbruch in einer Geschwindigkeit vollzieht, die bisher so noch | |
nicht dagewesen ist. Das liegt daran, dass diese junge Generation Schach | |
mithilfe von Programmen und computerbasierten Analysen gelernt hat und | |
durch den Shift Richtung online neue Formate eine viel größere Bedeutung | |
bekommen haben. Eine klassische Schachpartie dauerte früher Tage, | |
inzwischen nur noch eine ausgedehnte französische Mahlzeit, ein bullet-game | |
eine Zigarettenlänge. | |
Aktuell ist [2][Vincent Keymer] mit seinen 18 Jahren 43. des | |
internationalen Rankings. Hört man ihn in Interviews, ist es unmöglich, | |
Schlechtes über ihn zu sagen. Er ist ein fairer, ein bisschen aus der Zeit | |
gefallener und dabei sehr geerdet scheinender 18-Jähriger, der nach dem | |
Abitur einen Sprung nach vorne gemacht hat, der vermuten lässt, dass es für | |
die Top Ten des Schachs reichen wird; der gleichzeitig alle seine | |
Karrierepläne mit einer bodenständigen Nonchalance kommentiert, die man von | |
Nischensportler*innen kennt. | |
Kürzlich wurde er Vizeweltmeister im Schnellschach (wobei man einiges | |
wissen muss über zum Beispiel das Schweizer System und das Format, um das | |
einordnen zu können) und schon überschlug sich die „Wir sind wieder | |
wer“-Berichterstattung. Selbst der Kicker brachte Artikel, im Zentralorgan | |
gutmeinender Bürgerlichkeit, der Zeit, eröffnete Ulrich Stock seinen | |
Bericht mit dem Satz: „Das deutsche Schach ist nach Jahrzehnten des | |
Dämmerns und Dümpelns auf die Weltbühne zurückgekehrt.“ Was für ein | |
Quatsch: Dem [3][deutschen Schach] ging es nie schlecht. Es waren nur eine | |
Weile lang nie sehr viele Deutsche unter den Ersten. | |
Den Deutschen als Deutschen fällt schlicht nicht auf, dass etwas schön ist, | |
wenn es nicht schwarz-rot-gold angesprüht wird. Tragischerweise wird es | |
dann auf der Stelle hässlich, weil das schlicht die hässlichste | |
Farbkombination der Welt ist. | |
23 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Frédéric Valin | |
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