# taz.de -- Loblied aufs Wattestäbchen: Als würde ich mein Hirn streicheln | |
> Allen Warnungen zum Trotz reinigt unser Autor seine Ohren mit | |
> Wattestäbchen. Warum? Die Neurowissenschaft hat dafür durchaus Antworten | |
> parat. | |
Bild: Jede Drehung ein Genuss: das Wattestäbchen (hier in einer Hand) | |
Jeden Morgen drehe ich die Duschbrause zu und schiebe die Kabinentür zur | |
Seite; mein Blick schweift nach rechts, zum Spiegelschrank. Der Arm reicht | |
gerade so zum Knauf, aber nicht ganz dorthin, wo er hin soll: zu einem | |
Pappröhrchen von 7,5 Zentimetern, feste Baumwolle an beiden Enden, gerade | |
mal 0,4 Gramm schwer. Ein Wattestäbchen. Dies zarte Ding ist mein | |
persönlicher Rückzugsort. | |
Also steige ich aus der Dusche und fingere das Objekt meines Verlangens aus | |
dem kleinen Karton. Ich klemme das Stäbchen zwischen Daumen, Mittel- und | |
Zeigefinger, führe es ins rechte Ohr, kreise fünf Mal, bleibe nach jeder | |
Drehung an einer Stelle kurz stehen und übe etwas Druck aus – ungefähr | |
dort, wo der Gehörgang dem Ohrläppchen am nächsten ist. Dann drehe ich das | |
Stäbchen, nehme es in die linke Hand und gehe in das andere Loch. | |
Es ist, als würde ich mein Hirn streicheln. Ein Gefühl von Geborgenheit, | |
schneller als Instantnudeln. | |
Die Ärztin, der Biolehrer, die Krankenkasse, die Erziehungspersonen, | |
bevormundende Friends, alle sagen es: Wattestäbchen gehören niemals! ins! | |
Ohr! Landet das Thema einmal auf dem Tisch, haut einem jede*r Zweite eine | |
schmalzig-schmerzhafte Anekdote um die Ohren. Die Stäbchen schieben den | |
Schmalz nur rein, sie können sogar das Trommelfell durchlöchern (und so | |
langfristig dem Gleichgewichtssinn schaden). | |
## Weil „hygge“ von Hyggeiene kommt | |
Aber sorry: Das sanfte Kreisen ist nun mal ungemein befriedigend, mein | |
freudiges Laster. [1][Andere böllern], ich reinige meine Ohren mit | |
Wattestäbchen. [2][Weil „hygge“] eben von Hyggeiene kommt. | |
Von Berufs wegen arbeitet vor allem die HNO-Zunft gegen mich. Da ist viel | |
Alarm, und in den 1970ern ging der los, mit wissenschaftlichen Artikeln | |
über Gebrauch und Missbrauch von Wattestäbchen, über die „Hauptursache von | |
Ohrverletzungen und Hörverlust“. Ein „Problem, das bisher in der Literatur | |
zu wenig Beachtung gefunden hat“, so eröffnet eine Studie von 1974 – sie | |
untersuchte US-amerikanische Vorstadtmütter, wie sie ihren Kindern die | |
Ohren reinigten. | |
Was übrigens genau das Szenario ist, aus dem heraus die Stäbchen 50 Jahre | |
zuvor erfunden wurden. [3][1923 beobachtete Leo Gerstenzang], ein Mann in | |
der Quarterlife-Crisis, seine Frau, wie sie Wattebällchen an einem | |
Zahnstocher befestigte, um ihrem Kind die Ohren zu reinigen. Wenig später | |
brachte er vorproduzierte Wattestäbchen in die Geschäfte, anfangs noch als | |
„Baby Gays“, bevor sie den Namen „Q-Tips“ bekamen (Q für Quality). | |
## Reparaturen, Modellbau, Katzen striegeln | |
Mit der Zeit erweiterte sich die Marktnische der Stäbchen. [4][In den | |
1950ern bewarb die Firma sie] mit den Worten „Babies aren’t the only ones �… | |
today the whole human race uses 'Q-Tips!“ und dichtete den Stäbchen neue | |
Zwecke an: Salben und Schminke auftragen, Reparaturen und Modellbau, Katzen | |
striegeln, sogar das Reinigen von Gewehren. Heute werden Wattestäbchen | |
recht allgemein für Kosmetik, Hygiene und Babypflege vermarktet. Von ihrem | |
ursprünglichen Nutzen raten dann die Verpackungsrückseiten ab: „Nicht in | |
den Gehörgang einführen!“ | |
Doch wäre das wirklich so schlimm? Nur wenige Fachartikel beschwichtigen – | |
wie der aus dem International Journal of Head and Neck Surgery mit dem | |
geschmeidigen Titel [5][„To Swab or Not to Swab“] von 2016: Zwar gebe es | |
Unfälle mit Wattestäbchen, „dennoch reinigt ein Großteil der Bevölkerung | |
die Ohren unbeschadet mit Wattestäbchen (unter ihnen viele | |
HNO-Ärzt*innen)“. Wie groß dieser Großteil ist, können wir nur erahnen – | |
eine Umfrage von 2011 in Südostengland kommt auf 68 Prozent. | |
Wenn selbst die es tun, die es besser wissen müssten, wenn Vernunft und | |
Warnungen ihr Ziel verfehlen, dann sind wir offenbar etwas Großem auf der | |
Spur. Und das Große trägt einen Namen: Vagusnerv. Das ist der größte Nerv | |
des Parasympathikus, und der ist innerhalb unseres vegetativen | |
Nervensystems der lässige Gegenspieler des Sympathikus. | |
Während letzterer nämlich ein Highperformer ist, der die Pupillen weitet, | |
den Puls erhöht, den Orgasmus ermöglicht, macht der Parasympathikus so | |
ziemlich das Gegenteil. Er spielt im Team „Entspannung“ und mit ihm auch | |
der Vagusnerv. Der verbindet Kopf und Darm, übermittelt den Geschmack von | |
der Zunge und: Er reicht bis zum Außenohr. Sie merken: Jetzt sind wir dem | |
Geheimnis der Ohr-Hyggeiene ganz nah. | |
„Ob Sie beim Ohrenreinigen den Vagusnerv treffen, hängt sehr davon ab, wie | |
er bei Ihnen verläuft“, sagt der Neurowissenschaftler Nils Kroemer von der | |
Uni Bonn. Er selbst kenne zum Beispiel kein sonderlich befriedigendes | |
Gefühl beim Gehörgangputzen. | |
## Es hilft sogar gegen Depressionen | |
Der Vagusnerv ist Kroemers Spezialgebiet. Er forscht dazu, was passiert, | |
wenn wir den Nerv stimulieren – wie es die Kommunikation zwischen Magen und | |
Hirn verstärkt, wie es den Menschen entspannt, Motivation anregt, wohl | |
sogar gegen Epilepsie und therapieresistente Depressionen helfen kann. Hört | |
man Kroemer zu, so erscheint der HNO-Bereich wie ein Abenteuerspielplatz, | |
und das nicht nur für ihn als Forscher, sondern potenziell für uns alle. | |
Denn: Es ist nicht nur von Person zu Person unterschiedlich, wann wir wie | |
den Vagusnerv treffen. Es gibt auch verschiedenste technische und touchy | |
Methoden, um ihn zu reizen: Schellen, die um Nervenfasern implantiert | |
werden, Akupunktur oder Elektrodenclips für die Ohren, die Signale abgeben | |
wie ein Herzschrittmacher. | |
„An einem Punkt haben Sie die größte Chance, den Vagusnerv zu treffen: an | |
der Cymba Conchae“, sagt Kroemer, und für den wahrscheinlichen Fall, dass | |
Ihnen das nichts sagt: Das ist der kleine Graben zwischen zwei Knorpeln | |
über dem Hörloch. Mit dem Tragus wiederum bräuchten Sie etwas mehr Glück – | |
das ist der kleine knorpelige Lappen, den Sie mit dem Finger auf Ihren | |
Gehörgang drücken können, wenn Sie Ruhe wollen. Also, rein akustisch jetzt. | |
Politisch gesprochen lässt sich festhalten, dass wir als | |
sympathikusfixierte Wesen öfter unseren Vagusnerv streicheln sollten, ob | |
nun aus egozentrisch-haptischen oder gesellschaftlich-revolutionären | |
Motiven. Es kann doch nicht sein, dass mein innerer Einklang mittels zehn | |
Runden durch den Gehörgang seinen täglichen Höhepunkt findet. Oder dass es | |
dazu Wattebäusche an Pappstielen braucht. Ich werde mich ändern und fange | |
morgen damit an. | |
26 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Diskussion-ueber-Boeller-Verbot/!5903594 | |
[2] /Neues-Mode-Wort-aus-Daenemark/!5370013 | |
[3] https://www.qtips.com/about/ | |
[4] https://books.google.de/books?id=IT8EAAAAMBAJ&pg=PA120&lpg=PA120&am… | |
[5] https://www.neilsperlingmd.com/wp-content/uploads/To-Swab-or-Not-to-Swab-Dr… | |
## AUTOREN | |
Fabian Stark | |
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