| # taz.de -- Sonnenallee in Berlin-Neukölln: Allee der Barbiere | |
| > Die Sonnenallee ist kein Prachtboulevard, aber prächtig. Sie ist laut, | |
| > meist friedlich, ein Ort des Nebeneinanders – das zum Miteinander führen | |
| > kann. | |
| Bild: Jede Menge interessantes Leben: vor einem Barbershop in der Sonnenallee: | |
| Berlin taz | Damals sah diese fette Straße abgewrackt aus. Viele Geschäfte | |
| zugenagelt, besonders in den Seitenstraßen, nix vom angeblich coolen Flair | |
| an ihrer allerletzten Ecke, die bis 1990 zur DDR gehörte und zu der es | |
| einen Film gibt: „Sonnenallee“. 1999 war das Ostzonenkitsch, aber dieses | |
| Stück Sonnenallee zwischen der volxtümlich sommers immer gut besuchten | |
| Minigolfanlage am Hertzbergplatz und dem Hermannplatz, das war trist. | |
| Billig die Mieten, sehr billig, 50 Quadratmeter für 420 Deutschmark, top | |
| renoviert, sogar öko, wenngleich das Treppenhaus Nachkriegsflair hatte. | |
| Mein Vermieter sah schon morgens wie ein abgearbeiteter Maurer aus, gut | |
| gelaunt, der Umgang insgesamt robust, und die Kollegen in der | |
| szenebewussten taz freuten sich nur höflich bei meiner Nachricht, ich hätte | |
| eine feine Wohnung in Berlin gefunden. Man musste auch mal Glück haben: Der | |
| Mann suchte für seinen Wohnblock dringend Leute, deren Mieten er nicht beim | |
| Sozialamt einklagen musste. Neukölln? Gott bewahre, das doch nun wirklich | |
| nicht. | |
| Der schlechte Ruf sollte noch einige Jahre andauern, aber er entsprach | |
| schon damals nicht der Realität. Die Lebensmittelabteilung bei Karstadt am | |
| Hermannplatz war auch vor einem Vierteljahrhundert teurer als ein | |
| Discounter und – wohlsortiert – eher wie ein Juwelierladen. Es gab offenbar | |
| Kundschaft, die das ganze Höherpreisige am Leben hielt; die schon damals | |
| vorzüglichen Ergebnisse für die Grünen bei Wahlen sprachen auch dafür, dass | |
| unter der trashigen Oberfläche des ersten Augenscheins anderes präsent ist: | |
| gediegene Bürgerlichkeit in Wohnungen mit abgeschliffenen Holzböden. | |
| Die sind heute offenkundig, auch wenn die Nachrichtensendungen da nicht | |
| richtig mitkommen. „Silvesterböllerei“ rund um die Sonnenallee, wie zum | |
| Jahreswechsel 2022/ 23 Jugendliche und jungmännliche Gewalthorden die | |
| Polizei und Feuerwehr aushebeln? Gab’s schon immer, falls man das hier | |
| sagen darf, und einst hießen die Jungs nicht so, wie es die CDU gern | |
| offiziell erführe, sondern: Hans-Jürgen, Dieter, Klaus und Peter. | |
| ## Schlauchige Gehwege | |
| Die Sonnenallee, das ist eine kilometerlange Straße, die von der Buslinie | |
| M41 befahren wird, fast immer voll, im Tempo eher schleppend als zügig; die | |
| Fußwege eigentlich viel zu schlauchig, denn die Lokale bieten natürlich | |
| Außenplätze – Lokale, die diese Avenue seit einigen Jahren säumen, genauer | |
| gesagt: seit die Erasmus-Crowd und andere angehende Akademiker*innen | |
| aus finanziellen Gründen ins Viertel zogen, aber hauptsächlich Einwandernde | |
| aus Syrien. Diese Lokale sind in Reiseführern inzwischen gelistet. | |
| Die Sonnenallee, an der früher noch jugoslawische Restaurants oder | |
| vietnamesische Nicht-Edel-Imbisse lagen, ist arabisch dominiert, mit | |
| albanischen Einsprengseln. Die Türken sind meist weg, eine | |
| Änderungsschneiderei hat sich halten können, ansonsten sagen sie: „Ich bin | |
| nach Rudow gezogen, war mir zu voll hier, die Kinder sollen im Grünen | |
| aufwachsen.“ Ausgerechnet der Stadtteil der letzten Station der U7, ganz | |
| weit draußen, fast schon Brandenburg und Flughafen – Ruheplatz der vom | |
| Quirligen Erschöpften und Entnervten. | |
| Nicht dass die Sonnenallee inzwischen wie aus dem Grunewald geschöpft | |
| aussieht, nein, einen gewissen Elendsschick hat sie sich bewahren können, | |
| die Sache mit dem Müll ist auch nicht rund um die Uhr in den Griff zu | |
| kriegen. Aber er hat sich gemacht, dieser Boulevard. Keine Milchgeschäfte | |
| mehr, keine Schuhmacher, keine Delikatessalkoholläden mit vormittäglichen | |
| Trinkergemeinschaften, dafür arabische Brautmoden und Gardinenläden. | |
| ## Parallelwelt in der Parallelstraße | |
| Die Hipster und ihre Lokale siedeln eher in den Seitenstraßen, also in der | |
| Pannier- oder Bouchéstraße, vornehmlich aber, parallel zur Sonnenallee, in | |
| der Weserstraße, ein Catwalk auch queerster Flanierwünsche. Hier sind die | |
| Orte, an denen der frühere Politpromi Jens Spahn mehr Deutsch zu hören | |
| wünschte, dafür jetzt: Englisch (in allen Radebrechungsschattierungen), | |
| Spanisch, Italienisch, Hebräisch, Ungarisch … you name it. | |
| Was das bewirkt hat, ist klar. Prenzlauer Berg und andere Quartiere wurden | |
| zu teuer, Neukölln konnte man sich leisten. Wer das vielleicht nicht | |
| bewirkt, aber angestupst hat, war [1][der frühere Bürgermeister Neukölln, | |
| Heinz Buschkowsky], der durch verschiedene bezirkliche Behördenkniffe in | |
| die leerstehenden Läden Galerien und Kneipen lotste – und in Allianz mit | |
| der Gattin des früheren Bundespräsidenten, also mit Christina Rau, die | |
| verrufene Rütli-Schule zum Mustercampus ausbaute, besonders für | |
| Schüler*innen aus der Gegend. Die Sonnenallee blieb im Zentrum – und | |
| ist heutzutage faktisch die Pulsader des Bezirks. | |
| Auffällig ist diese Straße auch deshalb, weil es hier die vielleicht größte | |
| Männerfrisördichte des ganzen Landes gibt. Die Salons, circa 50 an der | |
| Zahl, sind arabische Domänen, einzelne Barbershops sind in albanischer | |
| Hand, allesamt bieten sie beste Schneide- und Rasierkunst mit der Neigung | |
| nicht zur Schere, sondern zum akkuraten Rasieren der Seitenköpfe. Heraus | |
| kommt fast durchweg so eine Art millimeterakkurate Undercut-Kultur. | |
| Viele eint ein Bekenntnis zum Palästinsensertum, qua Herkunft, eine | |
| Landkarte zur Dekoration an manchen Wänden der Barbierstuben ist üblich, | |
| auf der Linien im Sinne von „Palestine will be free / from the river to the | |
| sea“ gestrichelt sind. Israel gehört in gewisser Weise zu den Tabuthemen, | |
| wobei mein Lieblingsfrisör, der seinen Namen nicht erwähnt sehen möchte, | |
| sagt – glaubwürdig –, gegen Juden habe er nix, neulich habe er „drei Kun… | |
| dieses Glaubens“ auf seinem Stuhl gehabt: Er nähme sie alle, das Leben sei | |
| zu kurz, um sich mit Politik zu beschäftigen. Er sei froh, dass seine | |
| Eltern es gerade aus dem Libanon geschafft hätten, denn dort sei alles | |
| korrupt und kaputt. | |
| Nebenbei, eine erfreuliche Entwicklung der Vermischung aller möglichen | |
| Herkünfte, auch deutscher: Die Barbershops werden mehr und mehr auch von | |
| Urberlinern besucht, und zwar weil sie erstens dort gut betreut werden, | |
| zweitens die Arbeit dort tiptop ist, drittens die Barberkultur | |
| antimultikulturelle Lichtjahre von doitschem Frisörhandwerk (Fassong!) | |
| entfernt liegt. Es herrscht außerdem keine dumpfe Stille über allem, | |
| sondern, wie es sich in faktisch autonomen Männerzentren, die sie auch | |
| sind, gehört, eine redselige Munterkeit. Sie sind, so oder so, | |
| kommunikative Rückgrate dieser Straße. | |
| ## Die üblichen Leerstellen | |
| Sonnenallee, das ist auch eine Straße, auf der Themen ausgespart werden, | |
| wie überall. Dass zum Beispiel abends Frauen arabischer Prägung nur selten | |
| in den Cafés und Essenslokalen zu sehen sind; [2][dass die Jugendlichen, | |
| die zu Silvester aggressiv böllerten], eher nicht vom Rande dieses Teils | |
| der Straße kommen, sondern aus den Siedlungen am Ende, wo es ins Terrain | |
| des früheren Ostberlin übergeht, Endstation Baumschulenweg. Die Polizei | |
| sagt, rund um die Sonnenallee gäbe es im Alltag nicht mehr Kriminalität als | |
| anderswo, etwa in Mitte, Schöneberg oder Kreuzberg, man versuche, die | |
| Nervosität wegen der materiell dürftigen Lebenslagen der Bürger*innen im | |
| Zaum zu halten. | |
| Man wird hier auch gern mal nachts gefragt. Hast du vielleicht ’n Euro? | |
| Oder: Kann ich mir bei dir eine drehen? Einer rief mal, als er überhört | |
| wurde, in leicht verzweifeltem Ton und nicht böse: Ach, sei doch nicht so | |
| geizig! | |
| Die Sonnenallee hat ein besonders freundliches Flair, wenn sie am | |
| Wochenende gesperrt ist: Dann gibt es Budenzauber, Rummel, laute Musik. Die | |
| Hipster halten sich dann raus, nicht ihre Kultur. Aber sie alle, wir alle!, | |
| leben meist zivilisiert nebeneinander her, je nach Wohndauer im Viertel mit | |
| entsprechend vielen Nachbar- und Grußverhältnissen. Es war nie und ist eben | |
| kein Dorf, nur ein Kiez, der (noch?) nicht zur einschläfernden | |
| Wohltemperiertheit wie etwa rund um den Rosenthaler Platz oder der | |
| Schönhauser Allee verkommen ist. | |
| Es gäbe vermutlich nur einen Umstand, der alle sofort einte, auf die Straße | |
| brächte, empört, ja, wütend: Wenn der Mittelstreifen dieser Sonnenallee | |
| wieder, wie zuletzt vor einem halben Jahrhundert, von Parkplätzen befreit | |
| würde – entweder zugunsten einer Tram oder einfach nur als Catwalk für | |
| alle, auf dass die Blick- und Grußfreundschaften weiter gedeihen. Das wäre | |
| mit den Aufstiegswünschen vieler an der Sonnenallee, wo die Autos immer | |
| breiter und die Parkplätze immer knapper werden, so gar nicht vereinbar. | |
| Es bleibt eben eine ökologische Wüste, nicht besonders begärtnert. Dafür | |
| ist da jede Menge interessantes Leben. Man kann sich aussuchen, was einem | |
| mehr behagt. | |
| 9 Feb 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
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