# taz.de -- Hugenotten in Berlin: Vom Hinterhof in die Stadtmitte | |
> Die Berliner Hugenotten geben ihr Gemeindehaus und ihren Kirchsaal in | |
> Halensee auf. Die Gemeinde zieht nun in den Französischen Dom am | |
> Gendarmenmarkt. | |
Bild: Der Französische Dom auf dem Gendarmenmarkt | |
Berlin taz | Eine letzte Predigt, ein letztes Liedersingen, ein letzter | |
„Advent uff’m Hof“. Dann wird Pfarrer Jürgen Kaiser die Bibel zuschlagen, | |
einpacken und auf die Reise schicken quer durch Berlin, von Halensee zum | |
Gendarmenmarkt, vom Hinterhof an der Joachim-Friedrich-Straße in die | |
Beletage des Französischen Doms in Mitte. Ein unscheinbares Mietshaus in | |
Halensee – das war über 60 Jahre Heimat der Westberliner Hugenotten. | |
Unten die Räume der Gemeinde: Sitzungsraum, Büro der Pfarrer, Platz für | |
Konfirmandenunterricht. Dahinter, keilförmig von acht auf fünf Meter Höhe | |
zulaufend, der eindrucksvolle, eigens gebaute Kirchsaal. Backsteinwand auf | |
der einen, Glaswand auf der anderen Seite, die Decke holzgetäfelt. Von | |
vorne nach hinten leicht ansteigend mit einer Empore. Bilder und Kreuze | |
sucht man vergebens, auch einen Altar gibt es nicht, nur einen Tisch, auf | |
dem die Bibel liegt: Die Kargheit ist Programm und religiös motiviert – | |
Hugenotten lieben es schnörkellos. | |
Fiammetta Palladini forschte am italienischen Institut für Ideengeschichte | |
zu Naturrecht und zu den Hugenotten. „Akten zeigen, was nicht | |
funktioniert“, weiß Palladini, und so zeugen die von ihr durchkämmten und | |
jetzt in Paris publizierten Unterlagen aus dem Archiv der Gemeinde von | |
Nöten und Konflikten. Davon gab es reichlich. Die Berliner empfingen die | |
Flüchtlinge nicht gerade jubelnd. | |
Im Gegenteil: Die Bevölkerung verweigerte fast jede Unterstützung. | |
Transport und Verpflegung mussten auf Anweisung des Kurfürsten vom Militär | |
organisiert werden. Und Militär wurde eingesetzt, um die Brandstiftungen in | |
den Häusern der Hugenotten zu unterbinden. Die Gilden lehnten die Aufnahme | |
französischer Handwerker ab. Dabei gehörten nicht alle Flüchtlinge zur gut | |
ausgebildeten Elite aus Handwerkern und Akademikern. | |
## Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung | |
Zwar [1][trugen die Hugenotten in den folgenden Jahrzehnten wesentlich zum | |
wirtschaftlichen Aufschwung in Brandenburg-Preußen bei], doch zunächst | |
waren sie ohne Wohnung, ohne Kleidung, ohne Handwerkszeug, ohne alles. Und | |
es fehlte zumeist jede Kenntnis der deutschen Sprache. So ist die | |
Korrespondenz zwischen Hof und Gemeinde zweisprachig, berichtet Palladini: | |
Die Gemeinde schrieb auf Französisch, die kurfürstliche Kanzlei antwortete | |
auf Deutsch. | |
Seit sie im Ruhestand ist, hat Palladini sich die Akten des Consistoriums | |
der französischen Kirche in Berlin vorgenommen: von 1672, vom Jahr der | |
Gründung durch rund 150 Glaubensflüchtlinge bis 1694. Es ist eine Zeit | |
erneut verschärfter Repression in Frankreich, deren Höhepunkt das Verbot | |
des Protestantismus calvinistischer Prägung 1685 wurde und die dadurch | |
ausgelöste Fluchtwelle. Es ist aber auch die Zeit des Edikts von Potsdam, | |
mit dem der calvinistische Große Kurfürst noch im selben Jahr die Aufnahme | |
von Flüchtlingen in Brandenburg anordnete. | |
Dieses Edikt gestand den [2][Flüchtlingen] zahlreiche Privilegien zu, | |
darunter Religionsfreiheit, Steuerermäßigungen und eine erhebliche | |
Autonomie, sogar eine eigene Gemeindejustiz, die über Zucht und Ordnung | |
wachte. Palladini ist besonders die rigide Hochzeitspolitik aufgefallen: | |
Als ein verheirateter Hugenotte, der seine Frau in Frankreich | |
zurückgelassen hatte, in Berlin mit einer anderen Frau Kinder in die Welt | |
setzte, wurde das Paar wegen Bigamie angeklagt und zu Zwangsarbeit | |
verurteilt. Scheiden lassen durfte er sich nicht, sodass die beiden erst | |
nach dem Tod der Frau in Frankreich heiraten konnten. | |
Die Kolonie der Hugenotten in Berlin – das war nichts anderes als eine | |
Parallelgesellschaft. Um 1700 war jeder fünfte Einwohner der Stadt | |
französischer Abstammung. Man wohnte weitgehend unter sich, hatte eigene | |
Schulen (darunter das Französische Gymnasium), sprach Französisch und hatte | |
mit den meisten Berlinern, die – im Gegensatz zu ihrem Kurfürsten – nicht | |
den Lehren Calvins, sondern jenen Martin Luthers folgten, wenig Kontakt. | |
Die erfolgreicheren Zuwanderer trieben Geld auf, um die Not ihrer verarmten | |
Landsleute zu mildern. Erst richteten sie ein Krankenhaus ein, später ein | |
Waisenhaus und eine Holzhandlung, die minder Begüterte mit Brennstoff | |
versorgte. Mit der Zeit verlor sich das Französisch. Jetzt sprachen die | |
Hugenotten (zumindest: auch) Deutsch. | |
## Spaltung der Gemeinde | |
Robert Violet ist Hugenotte in elfter Generation, Archivar und lebendes | |
Gedächtnis der Gemeinde. Sein Büro hat er im Französischen Dom, und zu | |
seinen Schätzen gehört die Bauakte für das Haus in Halensee. Es wurde ab | |
1959 auf einem „Trümmergrundstück“ errichtet, die Pläne tragen den Namen | |
des Architekten Norman Braun. Braun, der erkennbar vom Bauhaus beeinflusst | |
war, hat in den 50er und 60er Jahren viel geplant in Westberlin; der | |
Kirchsaal in Halensee gehört dabei zum Besten. Gut 800.000 D-Mark haben | |
Wohnhaus und Saal gekostet. Am 11. Mai 1961 gab es den ersten Gottesdienst. | |
Offizielle Einweihung war am 10. Dezember. Der in Potsdam lebende Pfarrer | |
Karl Manoury, der das Projekt in weiser Voraussicht vorangetrieben hatte, | |
konnte nicht mehr dabei sein: Inzwischen war die Stadt nicht nur politisch | |
geteilt, sondern auch durch Mauer und Stacheldraht. | |
Die folgenden Jahrzehnte lebte die Gemeinde, langsam schrumpfend, ein | |
stilles und selten beachtetes Leben in der City West. Um so größer der | |
Umbruch nach dem Mauerfall: Schon Heiligabend 1989 konnten Hugenotten | |
(West) gemeinsam mit Hugenotten (Ost) im traditionellen Zentrum der | |
Gemeinde, im Französischen Dom, feiern. Der war im Krieg ausgebombt worden | |
und bot Gemeinde samt Hugenottenmuseum zunächst nur notdürftig Platz im | |
Souterrain. Erst in den 80er Jahren gelang der Wiederaufbau. | |
Dass das Gemeindeblättchen Die Hugenottenkirche in den Jahren der Spaltung | |
ein gemeinsames Blatt blieb, von der Post zugestellt in Ost wie West, ist | |
eine kleine historische Besonderheit. Für größere Aufmerksamkeit sorgte | |
dagegen 1993 die Stasi-Akte „Helena“. Sie zeigte, dass eine Pfarrerin, die | |
seit 1970 in Halensee Dienst tat, sich mindestens bis 1984 als Zuträgerin | |
der Stasi betätigt hatte. Die vom Evangelischen Pressedienst dokumentierten | |
Gesprächsvermerke lassen das Ausmaß dieser Agententätigkeit erahnen. | |
Reinhard Henkys, Experte für die Kirche in der DDR, sprach damals von | |
„nacktem Verrat“. Die Pfarrerin musste gehen. | |
## Hang zur Bescheidenheit | |
Die Gemeinde aber wuchs wieder zusammen. Bald überlegte man, Halensee | |
aufzugeben und die Aktivitäten im Dom zu bündeln. Die Frage war, wie lange | |
die auf einige Hundert Mitglieder reduzierte Gemeinde noch zwei Standorte | |
finanzieren könnte. Doch dann stand eine umfassende, staatlich finanzierte | |
Sanierung des Doms einem schnellen Umzug im Weg. | |
Berlins Hugenotten neigen zur Bescheidenheit, auch in Sachen Kommunikation: | |
Die Wiedereröffnung des neu gestalteten Hugenottenmuseums im vergangenen | |
Jahr nahm die Öffentlichkeit kaum wahr; den Festakt zum 350. Gründungstag | |
der Berliner Gemeinde verplauderte man im Juni weitgehend unter sich mit | |
Thomas de Maizière, immerhin einem Hugenottenspross; den 450. Jahrestag der | |
Bartholomäusnacht, des Massenmords an Protestanten im Paris des Jahres | |
1572, erwähnte man eher beiläufig bei einem Radiogottesdienst im August. | |
Dennoch hofft die Gemeinde auf Zuwachs: Längst muss die Abstammung nicht | |
mehr nachgewiesen werden – Sympathie und [3][Protestantismus] reichen. Oder | |
der Wunsch, am schönsten Platz der Stadt konfirmiert und – wie Fontane – | |
auf einem Friedhof der Hugenotten beigesetzt zu werden. Für manch einen mag | |
es auch reizvoll sein, über die Höhe der Kirchensteuer selbst zu bestimmen | |
– die Kirche nimmt nicht am staatlichen Kirchensteuereinzug teil. Ohnehin | |
lebt die Gemeinde weniger von ihren Mitgliedern als von ihren Immobilien: | |
Saal und Bürotrakt in Halensee sollen jetzt vermietet werden. | |
8 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Christian Walther | |
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