# taz.de -- Fußball und Courage: Die rückgratlose Nationalelf | |
> Die Kritik gegen die Fußballer geht leicht über die Lippen. Vor allem, | |
> wenn man selbst nicht vor der Wahl steht, ein Risiko einzugehen oder | |
> nicht. | |
Bild: Hat noch andere Sorgen als die One-Love-Armbinde: Manuel Neuer beim WM-Sp… | |
Seit einem Vierteljahr habe ich eine Mitarbeiterin, die jetzt so weit | |
angelernt ist, dass ich sie heute an dieser Stelle vorstellen kann: Frau | |
Dr. Bohne, Deutscher Jagdterrier, ein bisschen Rauhaardackel, also | |
Jagd-instinkt gepaart mit Sturheit, genau das Richtige für mich. Frau Dr. | |
Bohne hat in Internationaler Politik promoviert, sie wird mich künftig beim | |
Verfassen dieser Kolumne mit ihren brillanten Gedanken und scharfen | |
Analysen unterstützen. | |
Frau Dr. Bohne und ich halten es für geboten, diese Woche über Mut zu | |
reden. Sehr mutig finden wir die [1][Proteste in Iran], die mittlerweile | |
seit mehr als zwei Monaten andauern. Auslöser war der Tod einer jungen | |
Frau, die nach Ansicht der Sittenpolizei ihr Haar nicht korrekt bedeckte. | |
Längst ist es kein Protest gegen das Kopftuch, sondern gegen das System, | |
beherrscht von religiösen Fanatikern. Die wehren sich mit Gewalt, lassen | |
Zigtausende Demonstranten einsperren und wollen viele davon hinrichten. | |
Trotzdem zu protestieren, sich nicht einschüchtern zu lassen – das ist | |
echter Mut! | |
Ebenso mutig finden wir die Menschen, die in der Ukraine russischen | |
Attacken trotzen. Diese Woche war Kiew nach Luftangriffen ohne Strom und | |
ohne Wasser. Ein Video aus einem Krankenhaus zeigt, wie Ärzte ein Kind am | |
Herzen operieren – beim Licht einer Taschenlampe. Menschen versuchen mutig, | |
ihr Leben zu leben. Wir würden, da sind Frau Dr. Bohne und ich uns einig, | |
eiligst flüchten vor dieser Lebensgefahr. So mutig wie die Leute dort wären | |
wir wahrscheinlich nicht. | |
Mut ist, trotz Angst etwas zu tun. Aber ich finde, Frau Dr. Bohne | |
übertreibt manchmal mit ihrem Mut. Bisweilen hält sie sich für den einzigen | |
Hund mit einer Daseinsberechtigung. Alle anderen Hunde seien ignorierens-, | |
wenn nicht verachtenswert. Dabei legt sie sich sogar mit Artgenossen an, | |
die dreimal so groß sind wie sie und sie mal eben als Leckerli verspeisen | |
könnten. Das ist nicht mutig, das ist hitzköpfig. | |
Aber vielleicht weiß sie, dass ich sie beschütze. Dass sie null Risiko | |
trägt bei all ihrem Gebell und Geknurre und Zähnefletschen. Das nennt man | |
dann Gratismut. Kaum habe ich „Gratismut“ ausgesprochen, sagt Frau Dr. | |
Bohne: „Ah, die deutsche Fußballnationalmannschaft!“ Die ist tatsächlich | |
eingeknickt vor der Fifa („Korrupter Laden!“, findet Frau Dr. Bohne), | |
[2][Kapitän Manuel Neuer] hat auf das Tragen der „One Love“-Armbinde, die | |
für Toleranz und Vielfalt steht, verzichtet. | |
Stattdessen hielten sich die deutschen Spieler für ein Gruppenfoto die | |
[3][Hand vor den Mund]. „Als Zeichen, dass die Fifa ihre Meinungsfreiheit | |
einschränkt“, sage ich. „Oder dass sie besser ihren Mund halten“, entgeg… | |
Frau Dr. Bohne. „Diese Hasenfüße!“ Okay, sie hat den Begriff Gratismut al… | |
verinnerlicht und versucht nun, von ihrem eigenen Gratismut abzulenken. | |
„Apropos Fußball: Die iranische Nationalmannschaft ist wirklich mutig!“, | |
sage ich. „Die haben ihre Nationalhymne nicht mitgesungen, als Zeichen des | |
Protests gegen das Mullah-Regime.“ Frau Dr. Bohne sagt: „Stimmt, aber kaum | |
jemand bemerkt, dass diese Mannschaft in Iran von vielen Menschen kritisch | |
gesehen wird, weil sie überhaupt zur Weltmeisterschaft nach Katar gefahren | |
ist.“ Ich bin erstaunt. „Wirklich?“ – „Wirklich“, sagt Frau Dr. Boh… | |
Wenig mutig finden wir – schon immer – Leute, die anonym im Netz pöbeln. | |
Überwiegend rechtsextreme Trolls, oft Islamisten. Diese Woche sind es Leute | |
aus der „woken“ Ecke. Sie bewerten Kritik an der deutschen Mannschaft, sie | |
sei „rückgratlos“, als „ableistisch“, also als behindertenfeindlich. | |
„Rückgratlos“ solle man nicht sagen, fordern sie. Darf man so sehen. | |
Frau Dr. Bohne und ich haben lange diskutiert und kommen zu dem Schluss, | |
dass wir das anders sehen, und wurden daraufhin im Internet wüst | |
beschimpft. „Knechte“ seien wir, Behinderte seien uns „scheißegal“, wir | |
seien „Hundesöhne“ – letzteren Begriff weise ich komplett zurück, Frau … | |
Bohne lediglich die Bezeichnung „Söhne“. Unterm Strich finden wir die | |
Debatte hirnlos. | |
27 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Proteste-in-Iran/!t5884344 | |
[2] /Kapitaensbinde-bei-der-WM-in-Katar/!5879893 | |
[3] https://www.ndr.de/sport/fussball/Hand-vor-Mund-DFB-Team-protestiert-gegen-… | |
## AUTOREN | |
Hasnain Kazim | |
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