# taz.de -- Kritik an Gesetz für Katastrophenmedizin: „Purer Etikettenschwin… | |
> Das jüngst beschlossene „Triage-Gesetz“ gehört vors Verfassungsgericht, | |
> sagt Behindertenrechtsaktivist Constantin Grosch. Er nennt Alternativen. | |
Bild: Für Constantin Grosch werden Menschen mit Behinderung durch die neue Tri… | |
taz: Herr Grosch, am Donnerstag hat der Bundestag trotz vieler Bedenken | |
vonseiten Betroffener das [1][„Triage-Gesetz“ beschlossen]. Können Sie | |
damit leben? | |
Constantin Grosch: Das war kein guter Tag. Aber immerhin ist das Ergebnis | |
relativ schlecht ausgefallen für die Ampelkoalition: Gerade die | |
Abgeordneten, die sich seit Jahren um Behindertenpolitik kümmern, haben | |
dagegen gestimmt. Das zeigt auch, dass dem eigentlichen Zweck dieses | |
Gesetzes – nämlich dem Schutz von Menschen mit Behinderung vor | |
Diskriminierung – nicht entsprochen wurde. | |
Die Befürworter*innen sagen, das Gesetz vereine die Forderung nach der | |
Rettung möglichst vieler Menschenleben mit dem Schutz vor Diskriminierung. | |
Da würde ich erst einmal fragen, ob die Rettung möglichst vieler Menschen | |
in einer Triage-Situation überhaupt das richtige Ziel ist. Bei einer | |
großflächigen und länger andauernden Ausnahmesituation sollte unser Ziel | |
sein, dass danach immer noch eine vielfältige Gesellschaft übrigbleibt. Das | |
gilt nicht nur für Pandemien, sondern auch für Kriege und | |
Naturkatastrophen. Den utilitaristischen Ansatz, dass die Menge der | |
Überlebenden wichtiger sei als der einzelne Fall, halte ich nicht für | |
richtig und auch nicht vereinbar mit mehreren höchstrichterlichen | |
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. | |
Sie meinen den [2][berühmten Fall], bei dem zu entscheiden war, ob ein | |
entführtes Flugzeug abgeschossen werden darf, um zu verhindern, dass der | |
Aufprall deutlich mehr Leben kostet? | |
Zum Beispiel. Die Richter urteilten, dass ein Leben nicht weniger wichtig | |
ist als ein anderes und auch nicht als mehrere andere. In dem Triage-Gesetz | |
machen wir es jetzt genau andersherum und sagen, die schiere Masse ist | |
wichtiger als die individuelle Person? Auch das Deutsche Institut für | |
Menschenrechte hat deutlich gemacht, dass es diesen Ansatz verurteilt. | |
Was bedeutet dieses Gesetz für Sie persönlich? | |
Ich habe wieder mehr Bedenken, falls wir in eine ähnliche Situation geraten | |
wie mit der Coronapandemie. Laut dem Gesetz entscheidet die kurzfristige | |
Überlebenswahrscheinlichkeit über die Frage, wer intensivmedizinisch | |
behandelt wird, wenn nicht alle behandelt werden können. Nun dürfte aber | |
gerade die Überlebenswahrscheinlichkeit bei vielen Menschen mit | |
Behinderung, mir inklusive, als geringer eingeschätzt werden als bei | |
Menschen ohne Behinderung. | |
Aber das Bundesverfassungsgericht hat doch selbst die | |
Überlebenswahrscheinlichkeit als Triage-Kriterium vorgeschlagen. | |
Ins Spiel gebracht wurde das Kriterium von der Ärzteschaft. Nur deshalb ist | |
das Verfassungsgericht darauf eingegangen und hat die | |
Überlebenswahrscheinlichkeit als ein mögliches Kriterium betrachtet. Das | |
Gericht hat aber, anders als es die Befürworter des Gesetzes jetzt | |
darstellen, nicht alleinig darauf abgestellt. Es hat sehr deutlich gesagt, | |
dass die Politik hier einen großen Auslegungs- und Abwägungsspielraum hat. | |
Was ist das Problem am Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit? | |
Es basiert erst einmal auf Vermutungen. Und die sind selten frei von | |
Vorurteilen. Kein Mensch, auch kein Arzt, kann sagen, wie hoch eine | |
Überlebenswahrscheinlichkeit tatsächlich ist. Gerade Menschen mit | |
Behinderung wissen, dass die Prognosen, die ihnen gestellt wurden, oft | |
nicht eintreffen. | |
Im Gesetz wird explizit darauf hingewiesen, dass Merkmale wie eine | |
Behinderung keine Rolle bei der Triage spielen dürfen. | |
Das ist purer Etikettenschwindel. Bei der Einschätzung der | |
Überlebenswahrscheinlichkeit werden natürlich Begleiterkrankungen | |
mitbetrachtet. Und viele Behinderungen gehen eben mit Begleiterkrankungen | |
einher. Bei mir ist zum Beispiel das Lungenvolumen verringert. Wenn eine | |
Diskriminierung wegen Behinderung vermieden werden soll, dann darf nicht | |
auf die Überlebenswahrscheinlichkeit abgestellt werden. | |
Ärzt*innen haben vorgerechnet, dass gerade Menschen mit Vorerkrankungen | |
und Beeinträchtigungen von einer Triage anhand der | |
Überlebenswahrscheinlichkeit profitieren. | |
Ich bezweifle, dass sich aus diesen Simulationen eine generelle | |
Handlungsempfehlung für Triage-Situationen ableiten lässt. Es mag zum | |
Beispiel sein, dass bei Covid-19-Erkrankten Intensivbetten schneller wieder | |
frei werden, wenn zuerst die Menschen mit der höchsten | |
Überlebenswahrscheinlichkeit behandelt werden. Es mag auch sein, dass das | |
Menschen mit Vorerkrankungen zugutekäme, die ja besonders häufig | |
intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Bei einer Erkrankung aber, die | |
ohne Behandlung viel schneller zum Tod führt als Covid-19, wäre die | |
Rechnung eine ganz andere. | |
Vielen Ärzt*innen geht das Gesetz nicht weit genug. Sie fordern, dass | |
Menschen die intensivmedizinische Behandlung wieder entzogen werden kann, | |
wenn Patient*innen mit besserer Prognose kommen – die sogenannte | |
Ex-post-Triage. Nur so könne die Zahl der Überlebenden signifikant erhöht | |
werden. | |
Um das festzuhalten: Wir reden hier nicht über Menschen, die de facto keine | |
Überlebenswahrscheinlichkeit mehr haben und trotzdem weiterbehandelt | |
werden. Diese Menschen haben eine Chance, zu überleben. Ihnen die | |
Behandlung wieder zu entziehen, halte ich für zutiefst inhuman. Wir sind | |
ehrlich froh, dass zumindest die Ex-post-Triage aus dem Gesetz rausgehalten | |
wurde. | |
Aber irgendwie müssen Ärzt*innen doch entscheiden, wenn es zu viele | |
Patient*innen und zu wenige Behandlungsplätze gibt. | |
Da gibt es aber noch andere Möglichkeiten. Ein faires Kriterium darf sich | |
nicht an den Merkmalen der Person selbst orientieren und nicht von | |
Vorurteilen beeinflussbar sein. | |
Welche Alternativen gibt es denn? | |
Es gibt das First-come-first-serve-Kriterium: Die Person, die zuerst | |
eingeliefert wird, wird behandelt. Beim reinen Dringlichkeitskriterium | |
bekommt derjenige die Behandlung, der sie gerade am dringendsten braucht. | |
Das Zufallsprinzip, also eine Art Losverfahren, ist rein theoretisch das | |
gerechteste. | |
Was ist Ihr Favorit? | |
Da möchte ich mich überhaupt nicht festlegen. Man muss ehrlicherweise | |
sagen: Es gibt kein Kriterium, bei dem alles toll ist. Alle haben Vor- und | |
Nachteile. Aber wir haben hier einen Gesetzentwurf, der sich überhaupt | |
nicht mit den Alternativen beschäftigt hat. Wir haben eine | |
Bundestagsdebatte, in der Alternativen quasi gar nicht ins Spiel gebracht | |
wurden. Und wir haben auch bei der Ärzteschaft einen absoluten Unwillen | |
gesehen, sich mit Alternativen auseinanderzusetzen. | |
Vielleicht fehlt auch öffentliches Interesse an der Debatte, Druck auf die | |
Politik? | |
Ganz sicher. Das liegt zum Teil daran, dass diese Regelung im | |
Infektionsschutzgesetz versteckt wurde. Man musste sich schon sehr bewusst | |
damit beschäftigen, um überhaupt von den Einzelheiten zu erfahren. | |
Warum ist es den Behindertenselbstvertretungen nicht gelungen, ihre Sicht | |
ins Gesetz einzubringen? | |
Leider ist es überhaupt nicht überraschend, dass Menschen mit Behinderung – | |
ohne deren Intervention es dieses Gesetz ja gar nicht gäbe – nicht | |
angemessen beteiligt wurden. Die Fristen für Stellungnahmen waren extrem | |
kurz – gerade wenn man sich vor Augen führt, dass die meisten von uns | |
ehrenamtlich arbeiten und Unterstützung bei der Ausübung ihrer | |
partizipativen Rechte benötigen. Das gesamte Verfahren entsprach nicht den | |
Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention für die Beteiligung von | |
Menschen mit Behinderung am Gesetzgebungsverfahren. Das haben auch die | |
[3][Stellungnahmen der Behindertenbeauftragten des Bundes und der Länder] | |
noch einmal sehr deutlich gemacht. | |
Die beschlossene Triage-Regelung bezieht sich ausschließlich auf eine | |
pandemische Großlage. Die Coronapandemie gilt als ausgestanden, wie | |
relevant ist das Gesetz überhaupt? | |
Relevant ist zum einen, ob hier ein Gesetz beschlossen wurde, das gegen | |
Verfassungsgrundsätze verstößt. Diese Frage muss beantwortet werden, auch | |
wenn die Regelung nie zur Anwendung kommen sollte. Das Zweite ist, dass | |
zwar die Coronapandemie hoffentlich in ihrer Dramatik vorbei ist. Aber ich | |
teile die Einschätzung Karl Lauterbachs, dass wir in eine Zeit eingetreten | |
sind, in der wir häufiger mit Pandemien zu tun haben werden. Insofern weiß | |
niemand, wann wir wieder in eine Situation geraten, in der | |
Behandlungskapazitäten ernsthaft knapp werden. Und es muss gesagt werden, | |
dass diese Kapazitäten auch außerhalb einer Pandemie immer knapper werden. | |
Es gibt schon jetzt Triage-Situationen zum Beispiel durch lange | |
Wartezeiten. Auch die müssen geregelt werden. | |
Wie geht es jetzt weiter? | |
Wir werden uns mit unseren rechtlichen Beratern in den nächsten Wochen | |
zusammensetzen. Ich gehe aber schon jetzt davon aus, dass wir bis Ende des | |
Jahres erneut nach Karlsruhe gehen, weil wir davon überzeugt sind, dass | |
dieses Gesetz mit der Verfassung nicht vereinbar ist. | |
15 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Medizin-im-Katastrophenfall/!5894498 | |
[2] /Archiv-Suche/!473963&s=&SuchRahmen=Print/ | |
[3] https://www.hamburg.de/skbm/16670132/erklaerung-triage-gesetz/ | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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