| # taz.de -- Krisen und Energiesicherheit: Mehr über Jüterbog reden | |
| > Lasten und Nutzen der Ökotransformation sind regional ungleich verteilt. | |
| > Statt über Verzicht sollte mehr über Fortschritt gesprochen werden. | |
| Bild: In den Schutz kritische Infrastruktur wie Stromnetze muss mehr investiert… | |
| Transformation und Sicherheit werden die beiden Hauptthemen des | |
| [1][G20-Gipfels auf Bali in dieser Woche] sein. Konflikte sind dabei | |
| vorgezeichnet, denn die Auffassungen darüber, welche Reaktion auf den | |
| russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erfolgen soll, sind unter den | |
| G20-Mitgliedern ebenso unterschiedlich ausgeprägt wie die Vorstellungen zu | |
| nachhaltiger Entwicklung. | |
| Aber nicht nur auf der geopolitischen Spitzenebene spielen diese Themen | |
| eine wichtige Rolle. Beispiel Jüterbog bei Berlin: Die Gegend um die | |
| Kleinstadt ist flach, so dass die hoch aufragenden Kirchtürme einen weiten | |
| Blick ins Umland ermöglichen. Dieser wird unvermeidlich auf die vielen | |
| Windräder um den Ort herum gelenkt. Sie produzieren Strom, der die | |
| Abhängigkeit Deutschlands von Energieimporten verringert – und leisten | |
| dadurch einen kleinen Beitrag zu größerer Sicherheit. Stromhungrig ist | |
| jedoch in erster Linie nicht der ländliche Raum, sondern die nahe | |
| Großstadt. Lasten und Nutzen der Erzeugung von mehr Sicherheit sind also | |
| ungleich verteilt. | |
| Dieser Befund ist auch für die [2][Nationale Sicherheitsstrategie | |
| relevant], die im Koalitionsvertrag angekündigt ist; die Bundesregierung | |
| arbeitet zurzeit daran. Seit dem Frühjahr hatten Außen- und | |
| Verteidigungsministerin in mehreren Grundsatzreden den konzeptionellen | |
| Rahmen umrissen. Ein wichtiges Element dabei wird sein, die Verwundbarkeit | |
| Deutschlands zu verringern, die aus der Abhängigkeit von autoritären | |
| Regimen wie China und Russland resultiert – etwa mit Blick auf | |
| Energielieferungen, internationale Lieferketten oder die Entwicklung | |
| zukunftsträchtiger Technologien. | |
| Stattdessen werden mehr Sicherheit und „Resilienz“ als Ziel ausgegeben. Mit | |
| Resilienz ist die Widerstandsfähigkeit von Staat, Wirtschaft und | |
| Gesellschaft gemeint, die durch permanente Krisenbewältigung wachsendem | |
| Stress ausgesetzt sind. Von der Flucht- und Migrationskrise über die außen- | |
| und sicherheitspolitische Verunsicherung durch Brexit und Trump bis hin zur | |
| Pandemie, die ebenso wie der Überfall Russlands auf die Ukraine die | |
| Fragilität von Lieferketten sowie Versorgungsrisiken bloßlegte: In den | |
| vergangenen Jahren traten die Schwächen der nationalen Sicherungssysteme | |
| deutlich hervor. Teilweise ist Überforderung erkennbar, wenn beispielsweise | |
| der Bundeswehr angesichts der russischen Aggression eine mangelnde | |
| Fähigkeit zur Landesverteidigung attestiert wird. | |
| Mehr Sicherheit hat jedoch ihren Preis, und größere Resilienz wird mit | |
| Verzicht verbunden sein, wie auch [3][der Bundespräsident in seiner | |
| Grundsatzrede Ende Oktober] meinte. Denn den Schutz kritischer | |
| Infrastruktur zu verbessern, also die Widerstandsfähigkeit beispielsweise | |
| von Strom- und Datennetzen oder der Wasser- und Lebensmittelversorgung | |
| gegen konventionelle wie auch unkonventionelle Angriffe zu erhöhen, macht | |
| enorme Investitionen nötig. | |
| Dazu gehören etwa die für [4][das Sondervermögen Bundeswehr vorgesehenen | |
| 100 Milliarden Euro]. Insofern tangiert die Sicherheitsstrategie | |
| unmittelbar die Frage, wie und wofür staatliche Mittel künftig bevorzugt | |
| eingesetzt werden sollen – und damit geht es um die Verteilung von Lasten | |
| und Nutzen, nicht nur zwischen Stadt und Land, sondern ebenso in sozialer | |
| und letztlich politischer Hinsicht. | |
| Die Überzeugungskraft der Sicherheitsstrategie würde es daher stärken, wenn | |
| sie sich offensiv mit der Frage auseinandersetzt, wie eine gerechte | |
| Verteilung der Lasten aussehen kann, die mit mehr Sicherheit und Resilienz | |
| zwangsläufig verbunden ist. Und das betrifft zum Beispiel das erwähnte | |
| Ungleichgewicht zwischen Jüterbog und Berlin, was die Produktion und den | |
| Konsum von erneuerbarer Energie angeht. | |
| Natürlich lässt sich der für mehr Resilienz notwendige Verzicht schlicht | |
| mit der größeren Sicherheit begründen, die daraus gesamtstaatlich erwachsen | |
| soll. Vorausschauender wäre jedoch die Verknüpfung dieser Argumentation mit | |
| einer Perspektive, die mehr Sicherheit und Resilienz in den Zusammenhang | |
| mit der ohnehin anstehenden sozialökologischen Transformation bringt. | |
| ## Transformation ist nötig | |
| Schließlich entscheidet sich die Zukunftsfähigkeit Deutschlands maßgeblich | |
| daran, inwieweit die Lebensgrundlagen nachfolgender Generationen | |
| geschützt werden können. Bedroht werden diese durch die dramatischen Folgen | |
| menschlicher Eingriffe in die Ökosphäre, die zu Klimawandel, | |
| Biodiversitätsverlust und Ressourcenübernutzung führen. Ohne nachhaltige | |
| Transformation wird die vom Bundesverfassungsgericht im sogenannten | |
| Klima-Urteil festgestellte Verpflichtung des Staats, die Freiheit künftiger | |
| Generationen sicherzustellen, kaum möglich sein. | |
| Genau wie mehr Sicherheit und Resilienz geht auch die sozialökologische | |
| Transformation mit Verzicht einher, sodass sich die Frage nach gerechter | |
| Lastenteilung hier ebenso stellt. In der politischen Auseinandersetzung | |
| darüber, wo die staatlichen Prioritäten liegen sollten, könnten die beiden | |
| Ziele Sicherheit und Transformation jedoch leicht auf Kollisionskurs | |
| geraten – oder gar gegeneinander ausgespielt werden. | |
| ## Gegen Niedergangserwartungen | |
| Daher sollte die Nationale Sicherheitsstrategie Sicherheit und Resilienz | |
| zusammen mit Nachhaltigkeit in den Kontext der notwendigen Transformation | |
| stellen. Das könnte ihre öffentliche Akzeptanz erhöhen, wie während der | |
| verschiedenen Dialogformate deutlich wurde, in denen in den vergangenen | |
| Monaten deutschlandweit Bürgerinnen und Bürger mit Politik und Fachleuten | |
| über die Strategie diskutierten. | |
| Aus der Verzichts- würde so eine Fortschrittserzählung werden, die die | |
| Belange kommender Generationen in den Blick nimmt, ohne in Schönfärberei zu | |
| verfallen. Sie könnte damit im besten Fall einen Gegenakzent zu den | |
| gesellschaftlich verbreiteten Niedergangserwartungen setzen, die den | |
| sozialen Zusammenhalt im Inneren und die Handlungsfähigkeit nach außen | |
| gefährden. | |
| 15 Nov 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Lars Brozus | |
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