| # taz.de -- Krieg in der Ukraine: Keine dogmatische Gesinnungspolitik | |
| > Trotz wachsender Unsicherheit: Die globalen Herausforderungen erfordern | |
| > eine friedliche Koexistenz und Zusammenarbeit über Differenzen hinweg. | |
| Bild: Die Konfrontation zwischen Demokratien und Autokratien darf nicht das kon… | |
| Der Krieg in der Ukraine befindet sich bekannterweise in einer besonders | |
| gefährlichen Phase. So überrascht, mit welcher Unbekümmertheit die | |
| Eskalationsrisiken in der deutschen Debatte vielfach übergangen werden. | |
| Auch ein nicht völlig auszuschließender Einsatz von taktischen | |
| Nuklearwaffen durch Russland scheint vielfach nahezu „eingepreist“ zu | |
| werden. Es geht unverändert zentral um die Frage der Lieferung schwerer | |
| Waffen. | |
| Die moralisch aufgeheizte Debatte vermittelt den Eindruck, dass sich hier | |
| das Gute und das Böse schlechthin in Gestalt Wladimir Putins | |
| beziehungsweise Russlands gegenüberstehen. Die Notwendigkeit, die Ukraine | |
| zu unterstützen, wird letztlich damit begründet, dass die Ukraine einen | |
| Stellvertreterkrieg führt, dass sie für und damit letztlich im Namen der | |
| Nato und des Westens Werte wie Demokratie, Freiheit und Menschenrechte | |
| verteidigt. | |
| Interessanterweise spricht auch das russische Regime von einem | |
| Stellvertreterkrieg, den die Ukraine für den Westen führt. Ziel dieser | |
| Propaganda ist, die Kriegsschuld abzuwälzen, die militärischen Rückschläge | |
| Russlands in der Ukraine zu relativieren und gleichzeitig eine Drohkulisse | |
| aufzubauen, um westliche Staaten von weiteren militärischen | |
| Unterstützungsleistungen für die Ukraine abzuschrecken. | |
| Der Begriff Stellvertreterkrieg ist falsch und irreführend. Die Nato oder | |
| der Westen befinden sich eben nicht in einer militärischen | |
| Auseinandersetzung mit Russland, die in einem Drittland, der Ukraine, | |
| ausgetragen wird. Ebenso wenig kämpfen die ukrainischen Streitkräfte im | |
| Auftrag und im Namen des Westens. | |
| ## Kein Stellvertreterkrieg | |
| Auch die vielfach an die Fehlinterpretation von Stellvertreterkriegen | |
| geknüpfte überhöhte Erwartung, dass Russland im Falle eines Sieges gegen | |
| die baltischen Staaten und andere Mitglieder der Nato vorgehen würde, ist | |
| Unsinn. Für eine solche Absicht gibt es in der Vorgeschichte zum Krieg | |
| keinerlei Anhaltspunkte. Dazu kommt: Zu einem konventionellen Angriff auf | |
| die Nato dürfte Russland nach dem Ukrainedebakel über lange Jahre hinweg | |
| nicht mehr fähig sein. | |
| Dennoch ist die Unterstützung der Ukraine in der jetzigen Situation | |
| notwendig, denn letztlich geht es um die Wahrung für die regelbasierte | |
| Weltordnung zentraler, nicht nur im Interesse westlicher Demokratien | |
| liegender Prinzipien: das Verbot von Angriffskriegen und die Gewährleistung | |
| territorialer Integrität. Russland verstößt in eklatanter Weise gegen diese | |
| Prinzipien und geht gar so weit, der Ukraine die Existenzberechtigung als | |
| selbständiger Staat abzusprechen. | |
| Sollte Putin mit seinem völkerrechtswidrigen militärischen Angriff Erfolg | |
| haben, würde das einen folgenschweren Präzedenzfall schaffen. Der Rückfall | |
| in das alleinige Recht des Stärkeren würde zu chaotischen Verhältnissen | |
| führen. Die Unterstützung für die Ukraine ist darauf angelegt, dass sich | |
| die Ukraine als eigenständiger und lebensfähiger Staat in gesicherten | |
| Grenzen behaupten kann. Sie ist militärisch bewusst begrenzt, um | |
| zusätzliche Eskalationen bis hin zu Nuklearschlägen zu vermeiden. | |
| ## Die Unterwerfung Moskaus ist nicht das Ziel | |
| Das ist zudem ein Signal an Moskau, dass es nicht – wie die russische | |
| Propaganda meint – um die Unterwerfung Russlands geht. Der Westen befindet | |
| sich mitnichten im Krieg mit Russland. Auch in dieser Hinsicht ist also die | |
| Mär von einem Stellvertreterkrieg irreführend. Beim Thema | |
| Stellvertreterkrieg geht es letztlich um die Einordnung des Krieges in der | |
| Ukraine, die Haltung zu der sich dynamisch entwickelnden Weltordnung, um | |
| eine Entideologisierung und Versachlichung der Debatte. | |
| Und es geht um Realpolitik: Bei aller verständlichen Empörung über den | |
| völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und die Kriegsverbrechen kann es der | |
| Nato nicht um einen ideologischen Kampf gegen ein | |
| autokratisch-faschistoides Russland oder dessen Niederringung gehen. | |
| Vielmehr muss angesichts der steigenden Eskalationsgefahr, aber auch der | |
| enormen menschlichen Opfer und Schäden die rasche Beendigung der | |
| Kriegshandlungen im Vordergrund der Bemühungen stehen. | |
| Trotz der jüngsten beeindruckenden Erfolge der ukrainischen Streitkräfte | |
| bleibt der Ausgang des Krieges ungewiss; die von Putin dekretierte | |
| [1][Mobilisierung von mehreren 100.000 Reservisten] deutet vielmehr darauf | |
| hin, dass Putin keinesfalls aufgegeben hat. Die USA stehen in einer | |
| besonderen Verantwortung, um eine diplomatische Lösung und das rasche Ende | |
| der Kriegshandlungen voranzutreiben. | |
| ## Problem Krisenkommunikation | |
| Problematisch ist, dass es – anders als in der Kubakrise vor 60 Jahren – | |
| keine funktionierende Krisenkommunikation zwischen den beiden Atommächten | |
| zu geben scheint. Die Kubakrise hat gezeigt, wie entscheidend eine | |
| wirksame Krisenkommunikation ist, um Fehlkalkulationen und in letzter | |
| Konsequenz einen Atomkrieg zu vermeiden. Einmal mehr gilt jetzt, sich nicht | |
| von moralischer Empörung und Abscheu und Verachtung für Putin, sondern | |
| strikt von Interessen leiten zu lassen. | |
| Praktisch können die USA unter Berufung auf Artikel IV des mit Moskau 1973 | |
| geschlossenen [2][Abkommens zur Verhinderung eines Atomkriegs] den | |
| sofortigen Eintritt in dringende Konsultationen fordern. Dabei stehen dann | |
| beide in der Verpflichtung, alles zu unternehmen, um das Risiko eines | |
| nuklearen Konflikts abzuwenden. | |
| Eine anzustrebende diplomatische (Zwischen-)Lösung muss natürlich darauf | |
| bedacht sein, im Interesse der Wahrung der eingangs genannten zentralen | |
| Prinzipien der internationalen Ordnung keinen falschen Präzedenzfall zu | |
| schaffen. Dennoch dürfen bittere und schwierige Kompromisslösungen nicht | |
| von vornherein ausgeschlossen werden. | |
| Optimistisch, dass ein solcher Ansatz gelingen könnte, stimmt die aktuelle | |
| Lage sicher nicht. Trotzdem steht zu viel auf dem Spiel. Nichts darf | |
| unversucht bleiben, um die Möglichkeiten einer Kriegsbeendigung auszuloten. | |
| Das Verständnis, nicht in einen Stellvertreterkrieg verwickelt zu sein, | |
| kann dabei den Weg zu realpolitischen Lösungsansätzen erleichtern. | |
| Natürlich müsste auch die Ukraine in einen solchen Prozess in geeigneter | |
| Weise eingebunden sein. | |
| ## Bunt gemischte Weltordnung | |
| Ein verändertes Verständnis zur eigenen Rolle im Krieg sollte auch den | |
| Blick für die Risiken der Entwicklung der Weltordnung schärfen. Es geht | |
| eben nicht um einen Krieg zwischen Demokratien und Autokratien. Ebenso | |
| wenig sollte die sich abzeichnende neue Weltordnung auf eine solche | |
| Bipolarität reduziert werden. | |
| Schon der Kotau, den westliche Staaten vor auch unappetitlichen autoritären | |
| Regimen wie Saudi-Arabien [3][im Interesse der eigenen Energiesicherheit] | |
| zu machen bereit waren, signalisiert, dass die Versteifung auf eine | |
| derartige politische Frontstellung schon jetzt den politisch Handelnden | |
| wenig realistisch erscheint, selbst wenn immer wieder die | |
| „Wertegeleitetheit“ der Außenpolitik beschworen wird. | |
| Es gibt keinen festgefügten Block von autoritären Staaten. Darüber können | |
| auch die Bemühungen von Russland und China nicht hinwegtäuschen, die | |
| Beziehungen zu autokratisch verfassten Regimen zu vertiefen. Und der Westen | |
| sollte einer Blockbildung durch eine ungeschickte Konfrontations- und | |
| Abgrenzungspolitik ohne Augenmaß keinesfalls Vorschub leisten. | |
| ## Weltweit immer weniger Demokratien | |
| Besondere Aufmerksamkeit sollte dabei zentralen, durchaus auch demokratisch | |
| verfassten Staaten der Dritten Welt gelten. Russland und China umwerben | |
| diese Staaten, um sie auf ihre Seite zu ziehen oder zumindest zu | |
| neutralisieren. Es ist keineswegs davon auszugehen, dass die Zeit für die | |
| Demokratie arbeitet. Nach einer kontinuierlichen Zunahme der Zahl | |
| demokratischer Staaten in den letzten Jahrzehnten ist deren Zahl in den | |
| letzten Jahren rückläufig. | |
| Nach dem [4][Demokratie Index der Zeitschrift Economist] wurden 2021 nur 21 | |
| Staaten als „vollständige Demokratien“ eingestuft. Nicht nur gibt es | |
| besorgniserregende autokratische und autokratisch-populistische Tendenzen | |
| in einigen Staaten auch der EU. Auch – dies ist für die Entwicklung der | |
| internationalen Beziehungen besonders relevant – zählen die USA mit der | |
| Perspektive einer erneuten Machtübernahme eines republikanischen | |
| Präsidenten ebenfalls zu den Staaten, die sich von der Demokratie zu | |
| verabschieden drohen. | |
| Nicht die Konfrontation zwischen Demokratien und Autokratien darf das | |
| konstitutive Element einer neuen Weltordnung sein. Sondern es gilt, in | |
| einer heterogenen Weltgemeinschaft den Ausbau regelbasierter Ordnungsrahmen | |
| mit Nachdruck voranzutreiben. Dabei ist auch die Zusammenarbeit unter den | |
| durch das System der Vereinten Nationen privilegierten P5-Staaten (USA, | |
| China, Russland, Frankreich, Großbritannien) im Interesse einer Einhegung | |
| ihrer Rivalität zu fördern. | |
| Diese fünf nach dem [5][Atomwaffensperrvertrag] anerkannten | |
| Nuklearwaffenstaaten haben gemeinsame Interessen. Kurzfristig wird es auch | |
| darum gehen, das Atomabkommen mit dem Iran, von dem sich 2018 die USA | |
| zurückgezogen haben, wiederzubeleben. Empörung über die aktuellen Vorgänge | |
| im Iran ist mehr als verständlich, aber kein Grund, von diesem Ziel | |
| abzurücken. | |
| Für die EU wird es darauf ankommen, im Interesse der Verteidigung ihrer | |
| Freiheit und Werte enger zusammenzurücken und den | |
| autokratisch-populistischen Tendenzen in den eigenen Reihen entschieden | |
| Einhalt zu gebieten. Entschlossen und schnell sollte sie die | |
| Selbstbehauptungskräfte in einer unsichereren Welt stärken und eine | |
| strategische Autonomie (auch in militärischer Hinsicht) verwirklichen. Zwar | |
| wird sie sich auf einen Kalten Krieg 2.0 mit Russland einrichten müssen, | |
| dennoch sollte sie alles daran setzen, eine friedliche Koexistenz zu | |
| wahren. | |
| Nicht Scharfmacherei und konfrontative Missionierung für die Demokratie, | |
| sondern klares und entschiedenes Eintreten für Prinzipien wie Gewaltverbot, | |
| territoriale Integrität und menschenrechtliche Mindeststandards sollten | |
| leitend sein. Hierzu bedarf es der Führung und gemeinsamen Handelns. Und | |
| Führung erfordert nicht nur einen Wertekompass, sondern auch einen wachen | |
| und klaren Sinn für Realpolitik ohne ideologische Scheuklappen. | |
| 30 Oct 2022 | |
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| [1] /Teilmobilisierung-in-Russland/!5880189 | |
| [2] https://dewiki.de/Lexikon/Abkommen_zur_Verhinderung_eines_Atomkriegs#Artike… | |
| [3] /Robert-Habeck-zu-Besuch-in-Katar/!5842662 | |
| [4] https://www.eiu.com/n/campaigns/democracy-index-2021/?utm_source=economist&… | |
| [5] /Atomwaffensperrvertrag/!t5010807 | |
| ## AUTOREN | |
| Rüdiger Lüdeking | |
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