# taz.de -- Professor über MusikerInnengesundheit: „Angst vorm Urteil der Ko… | |
> Daniel Sebastian Scholz ist der erste Professor für | |
> MusikerInnengesundheit, der mentale Krankheiten fokussiert. Das sind vor | |
> allem Auftrittsängste. | |
Bild: Und nebenan sitzt nicht immer einE Freund*in: Violinisten im Orchestergra… | |
taz: Herr Scholz, Sie sind deutschlandweit der erste Professor, der sich | |
speziell mit mentalen MusikerInnen-Krankheiten befasst. Warum tat das | |
niemand vor Ihnen? | |
Daniel Sebastian Scholz: Es lief bisher bestenfalls nebenher, weil dieser | |
Aspekt weder bei MedizinerInnen – NeurologInnen und OrthopädInnen, die | |
MusikerInnen klassischerweise aufsuchen – noch in der Forschung im | |
Vordergrund stand. Die hergebrachte Überzeugung war überspitzt: Die | |
körperlichen Beschwerden stehen im Vordergrund, und wenn die nicht da sind, | |
gibt es auch kein mentales Problem. Der Fokus unseres Instituts lautet | |
dagegen: Körperliche Beschwerden können auch Ausdruck einer eigentlich | |
psychischen Erkrankung sein. | |
Welches wären denn typische körperliche Beschwerden? | |
Die häufigsten körperlichen Beschwerden von MusikerInnen sind Schmerzen des | |
Bewegungsapparats. Sie treten bei etwa 16 Prozent der erkrankten | |
[1][MusikerInnen] aufgrund von exzessiver Nutzung und Übertraining auf. Zum | |
Glück ziemlich selten, bei etwa einem Prozent der erkrankten MusikerInnen, | |
gibt es die fokale Dystonie. Sie bedeutet, dass Sie – wahrscheinlich | |
aufgrund übermäßigen Übens, wodurch sich bestimmte | |
Hirnrepräsentationsareale überlappen – Ihre Finger nicht mehr gezielt | |
einzeln ansteuern können. | |
Welche Instrumente sind betroffen? | |
Vor allem Klavier, Geige und [2][Gitarre,] die große feinmotorische | |
Präzision erfordern. Instrumente, die etwas grobmotorischer sind, aber | |
nicht minder komplex zu spielen – etwa der Kontrabass –, sind weniger | |
betroffen. Deren Spieler haben eher Erschöpfungssymptome oder Krämpfe durch | |
zu intensives Proben oder Üben. | |
Warum überfordern sich diese Menschen derart? | |
Weil es aufgrund der großen Konkurrenz nötig scheint, viel zu üben, um ein | |
hohes virtuoses und instrumentales Level zu erreichen. Hinzu kommt, dass | |
die MusikerInnen selbst manchmal nicht so recht Abstand gewinnen und | |
denken: „Viel hilft viel, und wenn ich noch mehr übe, werde ich noch | |
besser.“ Sie können dann oft nicht mehr einschätzen, ob es schon in eine | |
krankhafte Richtung geht. Ich hatte schon PatientInnen, denen ich gesagt | |
habe: „Jetzt dürfen Sie nicht [3][üben]. Ich verbiete Ihnen das.“ Das | |
können sie ganz schwer annehmen, weil es ja ihre Hauptbeschäftigung ist, | |
aus der sie viel Erfüllung und Zufriedenheit ziehen. | |
Kommen wir zu den mentalen Problemen: Welche sind am häufigsten? | |
An erster Stelle stehen Auftritts- und Versagensängste. Bis zu einem | |
gewissen Grad bezeichnen wir es als Lampenfieber, das ganz dienlich ist, | |
weil man dann konzentrierter ist. Ab einer bestimmten Intensität kippt es | |
aber in Auftrittsangst, und dann wird es beeinträchtigend. Dann können Sie | |
sich schlechter konzentrieren, spielen schlechter. | |
Fürchten die MusikerInnen das Publikum so sehr? | |
Nein. Und ich vermute, 97 Prozent der Zuhörerschaft hören kleine Fehler gar | |
nicht. Was [4][OrchestermusikerInnen] erstaunlicherweise am meisten | |
fürchten, ist das Urteil der KollegInnen. Sie denken: „Da sitzen noch viele | |
andere, die auch unglaublich gut spielen, und die hören alle meine Fehler.“ | |
Hinzu kommen viele unausgesprochene Konkurrenzsituationen. Die Erste Geige | |
denkt: „Wenn ich nicht liefere, rutscht das zweite Pult nach und ersetzt | |
mich, macht es vielleicht sogar besser.“ Das ist ein großes Problem für die | |
Studierenden an Musikhochschulen: dass es sehr schwierig ist, | |
Freundschaften zu schließen, weil man mit fast allen MusikerInnen | |
irgendwelche Konkurrenzsituationen erlebt. Schließlich gibt es für eine | |
Orchesterstelle, ein Stipendium, einen Preis im Schnitt zehn AnwärterInnen. | |
Haben heute mehr MusikerInnen als vor zehn Jahren mentale Probleme? | |
Nein, aber die Thematik – gerade die Auftrittsängste – wird nach und nach | |
enttabuisiert, sodass sich Betroffene eher dazu bekennen. Es gab schon | |
lange einen latenten Behandlungsbedarf, der aber nicht offen kommuniziert | |
wurde. Viele MusikerInnen haben Behandlungen privat bezahlt, damit niemand | |
davon erfuhr. Denn es herrscht teils bis heute die Überzeugung vor: „Wenn | |
du den Druck nicht aushältst, bist du in dem Beruf falsch. Du musst hart | |
sein und alles wegstecken können.“ Das ist natürlich kompletter Unsinn. Und | |
ein gescheiterter Selbsttherapie-Versuch ist manchmal die – bei Popmusikern | |
wie Prince und Michael Jackson tödlich endende – Suchterkrankung. | |
Wie helfen Sie also den Lübecker MusikerInnen? | |
Um uns einen Überblick zu verschaffen, entwickeln wir am Institut gerade | |
einen Fragebogen für eine Studie zur mentalen Belastung von | |
Musikstudierenden und MusikerInnen. Es soll ein Lübecker | |
Musizierenden-Gesundheitsinventar werden, das wir regelmäßig aktualisieren. | |
Zudem haben wir gerade eine Studie abgeschlossen zum Zusammenhang von | |
Selbstwert, Auftrittsangst und Depressivität. Und ganz konkret biete ich | |
einen Semesterkurs zum Umgang mit Lampenfieber an. | |
Wie läuft er ab? | |
Das ist eine Art Mini-Gruppentherapie. Da machen wir – ich bin ja | |
Verhaltenstherapeut – ganz klassische Expositionsübungen. Das heißt, die | |
MusikerInnen müssen sich dem Problem stellen, der Gruppe etwas vorspielen, | |
und dann sprechen wir es gemeinsam durch. Da sind verschiedenste | |
Instrumentengruppen, klassische und Pop-MusikerInnen vertreten, die so | |
bemerken, dass alle dasselbe haben, nur in jeder Gruppe anders gelagert. | |
Inwiefern? | |
Jede Instrumentengruppe hat aus anderen Gründen Angst. Die Klarinette vor | |
dem selten gespielten, extrem hohen Ton, der vielleicht kiekst. Die Geige | |
fürchtet, dass sie nicht richtig intoniert, also „schief“ spielt. Das | |
Waldhorn hat Angst, dass der Ton gar nicht kommt, weil fast alles mit | |
Lippenspannung gemacht werden muss. Es gibt also überall gewisse technische | |
Probleme. Die Frage „Blamiere ich mich vor den andern?“ wird dann spannend, | |
wenn die MusikerInnen aus ihrem Instrumentalgruppenverband herausgelöst | |
sind. Dann sagen etwa die KlarinettistInnen zu den GeigerInnen: Den | |
vielleicht schiefen Ton habe ich gar nicht bemerkt. Durch dieses Feedback | |
können die Geigen eine korrigierende Erfahrung machen, und auch ihre eigene | |
Bewertung der Situation kann sich verändern. | |
28 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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