| # taz.de -- Hamburger Gesundheitskiosk vor dem Aus: Gesundheit für Arme ist zu… | |
| > Die Ersatzkassen wollen das von Gesundheitsminister Lauterbach zum Modell | |
| > erhobene Projekt im armen Stadtteil Billstedt nicht weiter finanzieren. | |
| Bild: Will 1.000 solcher Gesundheitskioske einrichten: Gesundheitsminister Laut… | |
| Bremen taz | Vor ein paar Wochen noch lobte Bundesgesundheitsminister Karl | |
| Lauterbach (SPD) ihn als Vorbild, jetzt steht er vor dem Aus: der | |
| Gesundheitskiosk in Hamburg-Billstedt. Vergangene Woche schon hatten drei | |
| Krankenkassen angekündigt, ihre Finanzierung des Projekts zum Ende des | |
| Jahres einzustellen. Der Sozialverband SoVD Hamburg fordert nun die Stadt | |
| auf, das Geld zur Verfügung zu stellen. Bei seinem Besuch im August hatte | |
| Lauterbach angekündigt, rund 1.000 solcher Gesundheitskioske [1][in sozial | |
| benachteiligten Regionen] in Deutschland einrichten zu wollen. | |
| Seit 2017 gibt es den Gesundheitskiosk im Hamburger Osten. Zunächst wurde | |
| er über einen Innovationsfonds finanziert, 2020 übernahmen die Kassen. Das | |
| Projekt versteht sich als Ergänzung zur Versorgung, die hier schlecht ist: | |
| Hier gibt es viel weniger Ärzt*innen als anderswo. | |
| Auf der [2][Website des Gesundheitskiosk]s steht, dass die Leute auf | |
| Empfehlung von Ärzt*innen, einer sozialen Einrichtung oder auf eigene | |
| Initiative kommen können. Ein Erstgespräch, das in einer von sieben | |
| Sprachen geführt werden kann, dauert bis zu 60 Minuten. Darin geht es um | |
| die gesundheitliche, aber auch die soziale Situation der Menschen. Eine | |
| Erfassung der eingenommenen Medikamente, Kommunikation über Behandlungen | |
| mit Hausärzt*innen, ausführliche Erklärungen zu Diagnosen und dem deutschen | |
| Gesundheitssystem mit all seinen Leistungen – das und noch mehr ist in der | |
| Beratung möglich. Auch eine Begleitung von Schwangeren, Krebskranken oder | |
| Angehörigen, ebenso die Weiterleitung an Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen | |
| oder Ärzt*innen. | |
| Im ersten Halbjahr wurden 1.000 Beratungsgespräche geführt. Im Frühjahr | |
| 2021 veröffentlichte die Uni Hamburg zudem eine Studie, nach der der | |
| Gesundheitskiosk die medizinische Versorgung in den Stadtteilen Billstedt | |
| und Horn nachweislich verbessert habe – und auf andere Regionen ausgeweitet | |
| werden solle. Vermeidbare Krankenhauseinweisungen seien verringert und das | |
| Verständnis für Krankheiten verbessert worden. In einem Stadtteil in | |
| Hamburg, in dem mehr Menschen arbeitslos sind, Migrationsgeschichte haben | |
| oder von Hartz IV leben als im städtischen Schnitt. | |
| ## Kassen verweisen auf „prekäre Finanzlage“ | |
| Ende vergangener Woche kündigten drei Ersatzkassen – die Barmer, die DAK | |
| und die Techniker Krankenkasse – an, ihre Finanzierung für das Projekt Ende | |
| des Jahres auslaufen zu lassen. Der Grund: „Die Leistungen des | |
| Gesundheitskiosks doppeln sich mit vielen bereits vorhandenen Angeboten des | |
| sozialen Hilfesystems.“ In Hamburg gebe es beispielsweise die „Lokalen | |
| Vernetzungsstellen Prävention, Pflegestützpunkte, Angebote der einzelnen | |
| Krankenkassen sowie die vielfältigen Angebote der Gesundheitsämter“. Die | |
| Beratungen im Gesundheitskiosk seien nicht Aufgabe [3][der gesetzlichen | |
| Krankenversicherungen], sondern „Leistungen der öffentlichen | |
| Daseinsvorsorge“. Dazu komme die „sehr prekäre Finanzentwicklung“, daher | |
| seien „derart teure und mitunter redundante Leistungsangebote“ ab dem | |
| kommenden Jahr nicht mehr drin. | |
| Auch die AOK und die Mobil Betriebskrankenkasse sind an der Finanzierung | |
| beteiligt. Aber ohne die drei Ersatzkassen sei ein Weiterbetrieb nicht | |
| möglich, sagte Kiosk-Geschäftsführer Alexander Fischer der Deutschen | |
| Presse-Agentur. Mit dem Schritt werde „Gesundheitspolitik auf dem Rücken | |
| der Ärmsten“ gemacht. Fischer war am Mittwoch für die taz selbst nicht | |
| erreichbar. Zu eingespannt war er beim fünfjährigem Jubiläum, das am | |
| Nachmittag gefeiert wurde. So es denn was zu feiern gab. | |
| Der Betrieb der Einrichtung mit 16 Mitarbeitenden kostet rund eine Million | |
| Euro im Jahr. Der Sozialverband SoVD Hamburg fordert nun, dass die Stadt | |
| die Finanzierung übernimmt. „Das Angebot ist niedrigschwellig“, sagte der | |
| Vorsitzende Klaus Wicher am Mittwoch der taz. „Da gehen Menschen hin, die | |
| sonst gar nicht zum Arzt gehen würden.“ Dadurch kämen diese überhaupt erst | |
| ins Gesundheitssystem. Der Kiosk habe präventiven Charakter, spare | |
| langfristig sogar Geld. Hier werde an Fachärzt*innen überwiesen, | |
| Beratungen zu einem gesünderen Lebensstil durchgeführt, überhaupt erst auf | |
| Krankheiten wie Adipositas oder Diabetes aufmerksam gemacht. | |
| Ganz in der Nähe gebe es zwar das Gesundheitsamt als weitere öffentliche | |
| Anlaufstelle – aber das sei nicht ausreichend, so Wicher: „Es wird nicht so | |
| gut angenommen. Möglicherweise, weil es staatlich ist, sodass die Menschen | |
| da lieber nicht hingehen.“ Wegen einer Art „Bremse im Kopf“, etwa wenn | |
| Menschen schon bei anderen staatlichen Stellen schlechte Erfahrungen | |
| gemacht haben. | |
| Die Versorgung in ärmeren Stadtteilen wie in Billstedt sei oft nicht gut. | |
| Deswegen fordert Wicher – genau wie Lauterbach – einen Ausbau des Angebots. | |
| Nicht gerade im wohlhabenden Blankenese, aber dort, „wo Menschen Hürden | |
| überspringen müssen“. Er sieht den Staat in der Pflicht, sowohl die Stadt | |
| Hamburg als auch den Bund – „auch wenn das Gesundheitswesen natürlich | |
| momentan belastet ist“. | |
| Die Hamburger Gesundheitsbehörde verweist darauf, dass der Betrieb und die | |
| Finanzierung des Gesundheitskiosks Gegenstand der Verhandlungen zwischen | |
| den Kassen und dem Betreiber sei. Die Stadt habe damit nichts zu tun und | |
| das sei auch kaum zu ändern: „Die Möglichkeiten als Bundesland eigene | |
| Angebote der Gesundheitsversorgung zu betreiben sind aufgrund der | |
| Grundorganisation des Gesundheitswesens nur sehr begrenzt“, sagt | |
| Behördensprecher Martin Helfrich. | |
| Im Parlament schlägt der Rückzug der Kassen indes Wellen. Claudia Loss, | |
| gesundheitspolitische Sprecherin der Hamburger SPD-Fraktion, hält die | |
| Entscheidung für „nicht nachvollziehbar“ und fordert, „dass die Kassen i… | |
| Argumentation noch mal überdenken“. Die Prävention werde die Kassen | |
| langfristig entlasten. Zudem habe das Projekt die Versorgung im Stadtteil | |
| verbessert. | |
| Das sieht auch Linus Görg, Sprecher für Gesundheitsförderung der | |
| Grünen-Fraktion, so. Die Entscheidung habe „nun ganz sicher gravierende | |
| Auswirkungen auf die Menschen vor Ort“. Er vermutet, dass die Kassen mit | |
| ihrem Vorgehen „Druck auf den Bundesgesundheitsminister Lauterbach ausüben | |
| wollen“. | |
| Die Kosten für die Kioske, die Lauterbach vorsieht, sollen [4][einem Papier | |
| zufolge] zu 74,5 Prozent die gesetzliche Krankenversicherung, zu 5,5 | |
| Prozent die privaten Krankenkassen und zu 20 Prozent die Kommunen | |
| übernehmen. Dirk Heinrich, Vorsitzender des Virchowbundes der | |
| niedergelassenen Ärzte in Deutschland, sieht diesen Plan, der die Kassen | |
| unter erheblichen Druck setze, als Ursache dafür, „dass sich nun Kassen aus | |
| einem sozialen Projekt mit nachgewiesener Versorgungsverbesserung | |
| verabschieden“. [5][Der Virchowbund] ist Mitinitiator und Gesellschafter | |
| des Hamburger Gesundheitskiosks. | |
| 29 Sep 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Corona-Schutz-fuer-sozial-Benachteiligte/!5765625 | |
| [2] https://gesundheit-bh.de/gesundheitskiosk/ | |
| [3] /Finanzierung-der-Krankenkassen/!5883447 | |
| [4] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/regie… | |
| [5] https://www.virchowbund.de/pressemitteilungen/details/lauterbach-bringt-ham… | |
| ## AUTOREN | |
| Alina Götz | |
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